Mehmet Gürcan Daimagüler

„Eisern hielt ich mein Schweigegelübde durch. Zwei Jahre lang“

Doch dann kam der Bücherbus, und weil er sich auch ein Buch ausleihen wollte, sagte er schüchtern seinen Namen. Später schickte man ihn auf die Hauptschule, noch später promovierte er in Jura. Seit 2011 kennen ihn viele: Als Anwalt vertrat Mehmet Gürcan Daimagüler die Angehörigen im NSU-Prozess.

Mehmet Gürcan Daimagüler kam am 16. Januar 1968 in Niederschelden zur Welt. Nach dem Abitur studierte er Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaften, Verwaltungswissen- schaften und Philosophie an den Universitäten Bonn, Harvard und Yale. Ab 2011 war er als Vertreter der Nebenklage am NSU-Prozess beteiligt. Er ist Autor juristischer Fachliteratur zum Straf- und Strafprozessrecht. Dr. Daimagüler hat mehrere Bücher zu gesellschaftspoli- tischen Themen verfasst, außerdem schreibt er regelmäßig Kolumnen und Kommentare in Zeitungen und Zeitschriften. Von ihm stammt das Stück „Alles wird gut“, das am Schloss- theater Celle uraufgeführt wurde.
Deutschland ist nicht meine Heimat. Die Türkei ist nicht meine Heimat. Sollte ich je eine Heimat gehabt haben, dann ist es Niederschelden.

Dort kam ich am 16. Januar 1968 zur Welt. Mit seinen damals etwa 2.000 Einwohnern war Niederschelden zu klein, um sich Stadt nennen zu dürfen, und zu groß, um noch als Dorf durchzugehen. Durch den Ort schlängelt sich ein Fluss, die Sieg. Sie umringt fast zur Gänze den alten Ortskern, sodass Niederschelden auch das Inseldorf genannt wird. 

Niederschelden ist heute ein Teil der Stadt Siegen, etwa 80 Kilometer von Köln entfernt. Am Ortsrand stand ein riesiges Stahlwerk von Krupp, und das ist auch der Grund, warum wir in Niederschelden gelandet waren.

Nur wenige Jahre zuvor waren meine Mutter, Cemile Kağba, und mein Vater, Kerim Daimagüler, aus der Türkei nach Deutschland eingewandert. Damals wussten sie natürlich noch nicht, dass sie eingewandert waren. Geplant waren ja bloß vier oder fünf Jahre. Zunächst hatten sie in Fabriken in München gearbeitet, dann in Bruchsal bei Karlsruhe. Schließlich fand mein Vater Lohn und Brot als Stahlarbeiter bei Krupp in Niederschelden, während meine Mutter in einer Gerberei in Siegen arbeitete.

Für meine Mutter war Niederschelden ein Schock. Sie war in der Drei-Millionen-Stadt Bursa zur Welt gekommen und als junge Frau nach Istanbul gezogen. Zum ersten Mal wohnte sie nun in einem kleinen Ort. Sie empfand Niederschelden als dunkel. Um den Ort herum ziehen sich die Erhebungen eines Mittelgebirges, und dessen Schatten versperren tatsächlich schon recht früh am Tag die Sonnenstrahlen. Ich glaube aber heute, dass meine Mutter mit „dunkel“ nicht nur die Lichtverhältnisse meinte.

Meine Eltern hatten sechs Kinder, und ich war das erste, das in Niederschelden geboren wurde. Wir wohnten damals in einem Haus zwischen dem alten Friedhof und einer Sandhalde. Mein Geburtshaus wurde in den 70er-Jahren abgerissen. Erinnerungen an dieses Haus habe ich keine, denn bald nach meiner Geburt zogen wir in die Rittergasse. Woher der Name kommt, weiß ich nicht. Vielleicht wegen der nur wenige Meter entfernt liegenden Burgschule, wo die Grundschule untergebracht war und wo ich meine ersten vier Schuljahre verbrachte.

Es war ein Riesenglück, dass wir in der Rittergasse landeten. Unser Haus war groß und alt und klapprig, aber es kostete nur wenig Miete. Vor allem aber lebte eine ältere Witwe darin, Philipine Gaumann. Ihre Freundinnen und Freunde nannten sie „Phinchen“. Für uns war sie einfach „Oma“.

Oma war eine gottesfürchtige Frau. Mindestens einmal in der Woche ging sie zur „Versammlung“, zum Gottesdienst im Haus auf der Zeil, nur wenige Schritte entfernt. Sie konnte streng sein, sogar einen Stock hatte sie und scheute nicht davor zurück, ihn zu gebrauchen, wenn wir Kinder es mit dem Quatsch übertrieben. Das kam aber selten vor (nicht das Quatschmachen, sondern der Stockeinsatz).

Körperliche Züchtigung war damals noch gang und gäbe, also bitte Oma Philipine nicht vorschnell verurteilen! Denn Oma war sehr fürsorglich und immer für uns da. Ich weiß noch, dass ich mein erstes Wort auf Deutsch zu ihr sagte: „Warum.“ Ich weiß nicht warum, aber „warum“ klang so schön. Vor allem aber hatte dieses Wort eine Zauberkraft. Kaum hatte ich es gesagt, wurde mir etwas erklärt. Und je öfter ich es äußerte, umso mehr wurde mir erklärt, umso mehr lernte ich, nicht nur die Sprache. Wobei manche Erwachsene nach einiger Zeit mit den Augen rollten – wenn sie ein Dreijähriger mit dem Wort „warum“ begrüßte.

Oma Philipine half uns bei den Hausarbeiten. Meine Eltern wollten immer, dass aus uns Kindern einmal „etwas wird“ – welche Eltern wünschen sich das nicht für ihre Kinder? Allerdings war ihr Deutsch nicht gut, wann und wo hätten sie es auch lernen sollen? Zumal es ja demnächst zurück in die Heimat gehen würde. Also konnten sie uns nicht bei den Hausarbeiten helfen und Oma kam ins Spiel. 

Oma brachte mir eine „Knax“ mit, wenn sie in der Sparkasse gewesen war, ein Comicheft für Kinder. Und sie brachte mir Salamander-Comics mit, wenn sie im Schuhgeschäft gewesen war. Und so hießen meine Helden bald Didi, Dodo und Nero, Lurchi, Hopps und Piping. Mit ihnen – und mit Oma – habe ich Deutsch gelernt. Mehr noch: Diese Heftchen haben in mir die Liebe zum Wort erweckt. Aus den Heftchen wurden Bücher, und mit den Büchern kamen Träume: einmal Amerikas Westen bereisen, dort, wo Old Shatterhand und Winnetou ihre Abenteuer erlebt und ihre Schlachten geschlagen hatten. Einmal die Verbotene Stadt besuchen wie Marco Polo. Ich hockte auf unserem Dachboden in der Rittergasse und las, aber in Wirklichkeit war ich im Himalaja, in Mexiko oder in einem Kanu auf dem Weißen Nil, umringt von grimmigen Nilpferden. 

Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult. Die Schule machte mir Spaß, aber ich fürchtete mich vor meinem Klassenlehrer, Herrn Heidemann.

Herr Heidemann war furchtbar groß und ganz alt. Wahrscheinlich war er in Wirklichkeit weder besonders groß noch besonders alt. Er kam mir bloß so vor. In den nächsten vier Jahren sollte ich sein morgendliches Ritual kennenlernen. Schon von Weitem hörte man seinen Mercedes. Dieses Auto war ganz beeindruckend. Nicht, weil es ein Mercedes war. Sondern wegen der vielen Länderaufkleber, die von den vielen Reisen meines Lehrers zeugten. Da war sogar ein Aufkleber aus Ägypten!
Mein Leher Herr Heidemann blickte verblüfft, lachte und sagte: „Kinder, Kinder, wie stellt ihr euch das denn vor? Ein Türkenjunge auf dem Gymnasium?“ Und damit war das Thema durch. Ich kam auf die Hauptschule.
Herr Heidemann parkte immer auf dem Schulhof, direkt vor der Schule. Er kam in das Klassenzimmer, sagte „Guten Morgen“, setzte sich und zündete sich erst einmal eine Zigarette an. Wenn ich mich recht erinnere, rauchte er Camel. Nach dem Unterricht leerte immer eines von uns Kindern den Aschenbecher.

Am meinem ersten Schultag im August 1974 rief er die Namen aller i-Dötzchen auf. Dann musste man aufstehen und laut „Hier!“ rufen. Bald rief er einen Namen, aber niemand erhob sich. Plötzlich stand er vor mir – er war unheimlich groß, jedenfalls kam er mir so vor –, gab mir mit den Fingerknöcheln eine Kopfnuss und schnauzte: „Du musst dich melden, wenn ich deinen Namen rufe!“ 

Dabei hatte er doch gar nicht meinen Namen gerufen! Er hatte „Gu-Erkan“ gesagt. Mein Zweitname ist Gürcan, gesprochen Gürschan. Vor allem aber nannte mich kein Mensch so. Zu Hause war ich der „Arap“ – weil ich angeblich eine so dunkle Haut habe. So oder so: Gu-Erkan hieß ich nicht. Nach diesem Tag hatte ich fürchterliche Angst vor Herrn Heidemann. Ich tat, was ich tun musste: Ich schwieg. Während ich mich bei den anderen Lehrern ganz normal verhielt, mich meldete, antwortete und das tat, was ein Sechsjähriger so tut, trat ich bei meinem Klassenlehrer in einen Schweigestreik und antwortete einfach nicht.

Nach kurzer Zeit wurde es Herrn Heidemann zu bunt. Nach einer Stunde rief er mich zu sich und drückte mir einen Brief in die Hand und sagte dazu laut und deutlich, als sei ich taub: „DIESER BRIEF IST FÜR DEINE ELTERN. VERLIERE IHN NICHT UND GIB IHN DEINEM PAPA ODER DEINER MAMA.“ Papa war nicht zu Hause, also bekam ihn Mama. Sie schaute sich den Umschlag an, öffnete ihn, verstand nur Bahnhof – sie konnte ja kaum Deutsch – und ging rüber zu Oma. Oma las ihn, und ich konnte sehen, wie sie einen roten Kopf bekam. Das passierte nur, wenn sie wirklich sauer war, zum Beispiel, wenn jemand in ihrer Gegenwart geflucht hatte. Sie packte mich an der Hand, sagte zu Mama: „Komm mit!“, und zu dritt marschierten wir zur Burgschule. Vor der Schule stand noch der Mercedes. Wir marschierten ins Lehrerzimmer, und dort saß Herr Heidemann und schaute uns überrascht an.

Oma baute sich vor ihm auf, die Arme in die Hüften gestemmt, und sagte: „Hören Sie mal! Das ist ein ganz normaler Junge! Er ist nicht dumm oder sonst was und gehört nicht auf die Sonderschule!“

Herr Heidemann stammelte etwas von „Der ist stumm in meiner Klasse“, aber Oma sagte bloß: „Ach was, papperlapapp! Bei den anderen Lehrern spricht er doch auch. Seien Sie mal etwas geduldig!“ Und das war’s. Herr Heidemann hatte mich auf die Sonderschule abschieben wollen. Doch ich blieb auf der Burgschule – und hielt mein Schweigegelübde weiterhin eisern durch. Das ganze erste Schuljahr. Das ganze zweite Schuljahr. Und dann kam das dritte Schuljahr und der Moment, an dem ich doch in Versuchung kam. 

Alle ein oder zwei Wochen kam ein Bücherbus zu uns an die Schule. Der Fahrer oder die Fahrerin, ich weiß es nicht mehr, hatte ein kleines Wägelchen und packte darauf einen Schwung Bücher und klapperte damit die dritten und vierten Klassen ab. Von meinem Stuhl aus reckte ich den Kopf, um einen Blick auf die Titel zu ergattern – und konnte es kaum fassen. Karl May! „Die drei ???“! „Fünf Freunde“! 

Jedes Kind durfte sich ein oder zwei Bücher nehmen, und das auch noch umsonst! Der Haken bei der Sache: Man musste sich melden, das Buch nennen, das man gerne haben wollte, und dazu seinen Namen sagen, damit der auf einem Kärtchen notiert wurde. Ich war hin- und hergerissen. Ein Kind nach dem anderen meldete sich und nahm etwas zum Schmökern entgegen, unter den strengen Blicken des Herrn Heidemann. 

Schließlich hatten alle, die ein Buch wollten, eines vor sich liegen und die Bücherdame machte Anstalten zu gehen. Ich dachte: jetzt oder nie! Und meldete ich mich und sagte laut und deutlich meinen Namen. Alle Kinder drehten sich um und schauten mich erstaunt an. Herr Heidemann schaute mich erstaunt an. Die Dame mit den Büchern schaute erstaunt zu den Kindern und zu Herrn Heidemann. Dann gab es plötzlich Beifall! Alle Kinder klatschten. Die Bücherfrau muss sich gefragt haben, was mit dieser Klasse nicht stimmte. Jedenfalls durfte ich mir dann ein Buch aussuchen. Ich entschied mich für „Die drei ??? und das Gespensterschloß“ und las es noch am selben Tag durch. 

Später entdeckte ich die Stadtbücherei. Damals gab es noch eine Dependance in Eiserfeld. Das war der etwas größere Nachbarort, zu Fuß etwa 20 Minuten entfernt. Einmal die Woche tigerte ich dahin und verbrachte den ganzen Nachmittag dort, in Büchern blätternd und lesend. Auf dem Nachhauseweg hatte ich immer vier, fünf oder sechs Bücher, die ich bis zu meinem nächsten Besuch durchlas. 

Nachdem ich das Schweigegelübde aufgegeben hatte, sprach ich nun auch im Unterricht bei Herrn Heidemann, bei dem ich viel lernte. Abgesehen davon, dass er rauchte wie ein Schlot, Kopfnüsse verteilte wie nichts Gutes und mich auf die Sonderschule stecken wollte, war der doch ein ganz guter Lehrer. 

Am schönsten fand ich die Weihnachtszeit an unserer Schule. Wir bastelten Weihnachtssterne und kleine Adventskränze, backten Kekse und aßen sie dann gemeinsam. Es brannten Kerzen, und die ganze Schule duftete nach Weihnachtsgebäck und Kerzenrauch. Am tollsten war der Weihnachtsbaum, der unten im Eingang stand. Er war herrlich dekoriert, und wir Kindern sangen dort, vor dem Baum und auf den Treppenstufen stehend, Weihnachtslieder. 

Im Sommer 1978 endete meine Zeit in der Burgschule. Meine Noten waren gut. Meine Eltern verstanden nicht viel vom deutschen Schulsystem, die Hauptsache für sie war, dass wir Kinder zur Schule gingen. Sie wussten damals nicht, dass am Ende des vierten Schuljahres die Weichen für die Zukunft ihrer Kinder gestellt wurden. Die künftigen Akademiker kamen auf das Gymnasium, der künftige Mittelbau von Verwaltung und Handel auf die Realschule und die künftigen Arbeitsbienen auf die Hauptschule. 

Eines Tages lag ein Brief im Briefkasten. Ich weiß nicht mehr, wer der Absender war, ob nun die Schule oder das Schulamt. In dem Brief stand, dass ich auf die Hauptschule komme und dann und dann auf der Hubenfeldschule zum Unterricht erscheinen solle. Die Hubenfeldschule war uns nicht unbekannt. Mein älterer Bruder und meine ältere Schwester gingen dort bereits zur Schule. Es gab jedoch einen Unterschied zwischen ihnen und mir: Als sie eingeschult wurden, gab es keine Oma Philipine. Und sie hatten keine älteren Geschwister, die sich mit dem Schulsystem schon ein bisschen auskannten. 

Als meine ältere Schwester den Brief las, beschloss sie, begleitet von meiner ältesten Schwester, etwas zu unternehmen. Ich kann mich nicht erinnern, warum Oma Philipine nicht involviert war, vielleicht war sie auf ihrem jährlichen Urlaub am Bodensee. Jedenfalls marschierten meine Schwestern mit mir im Schlepptau zur Schule. Wir fanden Herrn Heidemann, alleine an seinem Tisch sitzend, in einer der Klassen vor. Schüchtern fragten meine Schwestern, ob ich denn nicht auf das Gymnasium dürfe, weil meine Noten seien ja sehr gut. 

Herr Heidemann blickte verblüfft, lachte und sagte: „Kinder, Kinder, wie stellt ihr euch das denn vor? Ein Türkenjunge auf dem Gymnasium?“ Und damit war das Thema durch. Es waren andere Zeiten – und, was das angeht, schlechtere Zeiten. Ich hatte halt das Pech, dass ich Türke und ein Arbeiterkind war. Diese Kombination war tödlich. Wäre mein Vater Zahnarzt oder so gewesen und nicht „bloß“ ein Stahlkocher, ich hätte bestimmt meinen Weg auf das Gymnasium gefunden. So hatte ich eben Pech. 

Zwei Jahre lang, von 1978 bis 1980, war ich nun Schüler der Hauptschule Auf dem Hubenfeld. Während ich früher nur eine Minute gebraucht hatte, um von der Rittergasse zur Burg zu kommen, musste ich nun jeden Morgen 20 Minuten laufen, vor allem den ganzen Berg rauf. Das hat mich wahnsinnig genervt. Abgesehen davon hatte ich eine gute Zeit auf der Hauptschule. Ich war traurig, dass ich nicht mehr mit einigen meiner alten Freunde aus der Grundschule zur Schule ging. Es fiel mir auch auf, dass sie nicht mehr so offenherzig waren, wenn ich sie auf dem Schulweg traf. Erst viel später realisierte ich, dass wir nun unterschiedlichen „Klassen“ angehörten, nicht Schulklassen, sondern gesellschaftlichen Klassen. Hier die künftigen Doktoren, dort die künftigen Arbeiter. 

Einmal im Jahr ging es zur Ausländerpolizei, um unsere Aufenthaltsgenehmigung verlängern zu lassen. Oft ging ich mit, das Deutsch meiner Eltern war ja nicht so gut. Mein Vater zog sich dann immer seinen einzigen Anzug an und band ganz sorgfältig seine Krawatte. Auf dem Amt mussten wir meistens lange warten, und mit jeder Minute wuchs die Nervosität meines Vaters. Wenn irgendwelche Unterlagen fehlten – und es fehlten immer irgendwelche Unterlagen –, wurde mein Vater angeschnauzt. Mein Vater entschuldigte sich immer, so gut er konnte, und verhielt sich so unterwürfig wie nur eben möglich. Mein sonst so stolzer Vater! 

Mit jedem Jahr machte es mich wütender, und mit jedem Jahr verlor ich ein bisschen mehr den Respekt ihm gegenüber, und natürlich spürte er das. Als ich 16 war, starb mein Vater. In vier Jahren werde ich so alt sein wie mein Vater, als er starb. Es hat Jahrzehnte gebraucht, bis ich verstanden hatte: Mein Vater warf sich in den Staub, damit seine Kinder es irgendwann nicht mehr tun müssen. 

Der Schulunterricht machte mir noch immer Spaß, und ich hatte auch auf dem Hubenfeld großes Glück mit meinen Lehrerinnen und Lehrern. Meine Klassenlehrerin war die Frau Wendt, die ganz schön streng sein konnte. Jahrzehnte später sprach mich eine ältere Dame an, nachdem ich einen Vortrag im Apollo-Theater in Siegen gehalten hatte. Obgleich über 30 Jahre vergangen waren, erkannte ich sie gleich wieder. Sie sagte mir, wie stolz sie auf mich sei. „Früher warst du mein Schüler, und jetzt lerne ich von dir“, sagte sie mir. Etwas Schöneres kann doch kein ehemaliger Schüler von seiner alten Klassenlehrerin hören, oder? Leider starb Frau Wendt kurze Zeit nach unserem Wiedersehen. 

In besonderer Erinnerung ist mir auch meine Erdkundelehrerin geblieben, die Frau Hoffmann. Frau Hoffmann wohnte in dem Fachwerkhaus unten an der Zeil. Sie fuhr einen goldfarbenen VW Käfer, den sie immer in dieser alten Scheune direkt neben der Praxis von Dr. Kluge parkte. Ihr Unterricht machte mir großen Spaß, auch weil wir oft auf Landkarten schauen und fremde Länder „entdecken“ durften. 

Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass meine Jahre auf dem Hubenfeld verlorene Jahre gewesen seien oder dass ich nichts gelernt hätte. Natürlich, es gab keinen Lateinunterricht oder überhaupt alte Sprachen. Wir hatten aber engagierte Lehrerinnen und Lehrer, und immerhin gab es Englischunterricht. Hauptschulen hatten damals auch keinen so schlechten Ruf, wie es heute oftmals der Fall zu sein scheint. Vor einiger Zeit musste ich mit Traurigkeit hören, dass „meine“ alten Schulen, die Burgschule und die Hubenfeldschule, geschlossen würden und dass stattdessen auf dem Hubenfeld eine neue Grundschule Einzug halten würde. Etwas verwundert war ich allerdings, als ich hörte, dass manche Eltern eine Umbenennung der Hubenfeldschule gefordert hätten, aus Furcht, jemand könnte denken, der teure Nachwuchs sei auf einer Haupt- und nicht auf der Grundschule gelandet. Ich empfehle hier etwas Entspannung. 

1980 ging meine Hauptschulzeit vorzeitig zu Ende. Denn meine Klassenlehrerin empfahl mich für die Aufbaurealschule auf dem Siegener Giersberg. Sie sah wohl Potenzial in mir und glaubte, dass ich mich dort mehr entfalten könnte als auf dem Hubenfeld. Ein direkter Wechsel auf das Gymnasium ging nicht, also die Realschule, und da Aufbaurealschulen genau auf Kinder wie mich zugeschnitten waren, die von der Hauptschule kamen, ging es nun jeden Morgen mit dem Bus nach Siegen. 

Ich war traurig und aufgeregt zugleich. Traurig, weil ich meine alten und neuen Freunde nicht mehr so oft sehen würde, und aufgeregt, weil ich jeden Tag in das aufregende Siegen fahren durfte! Für mich damals ein wahres Manhattan. Während meine Geschwister morgens zur Burgschule oder zum Hubenfeld marschierten, rannte ich zur Bushaltestelle vor dem Hotel Storch. 

Die Jahre auf dem Giersberg vergingen wie im Flug. Meine Noten waren mal besser, mal schlechter und am Ende sehr gut. Zwischendurch wurde ich gemobbt. Ich stieß auf viele tolle Lehrerinnen und Lehrer. Da war die großartige Frau Frank, die mich nicht nur in Deutsch unterrichtete, sondern auch meine Liebe zum Wort erkannte und förderte. Mein Soziologielehrer Herr Betz war nicht nur mein Lehrer, sondern auch mein Retter, als er mich vor den rassistisch mobbenden Schulkameraden schützte und ihnen die Leviten las. Herr Kern war ein gelehrter Mathematiklehrer, der mir auch sonst so manchen guten Rat mit auf den Weg gab. 

Als sich meine Zeit auf dem Giersberg dem Ende näherte und mein Weg zum Abitur auf dem schönen Gymnasium am Rosterberg begann, zeichnete sich auch das Ende meiner Jahre als Niederscheldener ab. Nein, das ist das falsche Wort. Ich werde immer ein Niederscheldener bleiben. Was ich sagen will, ist, dass meine Zeit als jemand, der in Niederschelden wohnte, zu Ende ging. Im Februar 1984 starb mein Vater nach einem Herzinfarkt. Meine Mutter stand plötzlich mit vier minderjährigen Kindern da. Das Haus in Niederschelden, obgleich die Miete nicht hoch war, wurde zu teuer. Zu viert zogen wir in eine Dreizimmerwohnung in Gosenbach. Natürlich war ich immer noch oft in Niederschelden, aber nun war ich nur noch Besucher, und das fand ich traurig. 

Was bleibt, sind Erinnerungen. Die meisten Erinnerungen sind schön. Oft spricht man dieser Tage von „Heimat“ und streitet sich darum, was das bedeutet und wer dazugehört und wer nicht. Ich weiß ganz genau, was für mich Heimat bedeutet. Heimat sind Erinnerungen an Spiele mit den Nachbarskindern. Heimat sind Gerüche, wie der Geruch nach frisch gebackenen Plätzchen in der Weihnachtszeit. Vor allem aber sind Heimat die Menschen, die man kennt und die einen kennen. 

Nicht jede dieser Bekanntschaften ist schön oder gut. Manchmal handelt es sich um Menschen, die man vor allem vom Weggucken kennt. Einige dieser Menschen haben mich „Kanake“ genannt. Es verletzt mich nicht mehr. Fuck them. Ganz ehrlich, das, was diese Leute unter Heimat verstehen (Trachtenkleider, Volkslieder, Sonnenschein und Vollbeschäftigung, und das alles ohne Ölaugen wie mich – kurz: die Erinnerung an ein Deutschland, das es nie gab), also diese Heimat können sich diese Leute ganz getrost mit meinem Segen in ihren arischen Arsch schieben. Pardon my French. 

Als mein Vater starb, stand meine arme Mutter mit leeren Händen da. Sie war verzweifelt und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Dann klingelte es am Abend an der Tür und ein Nachbar stand dort und drückte meiner Mutter mit Worten des Beileides einen Umschlag in die Hand. Menschen aus der näheren und aus der weiteren Nachbarschaft hatten zusammengelegt, und es waren Menschen, die selber nicht viel hatten. Dieses Geld war so wichtig. Nicht alleine, weil für einige Zeit der Kühlschrank gähnend leer war. Dieser Umschlag war ein Zeichen der Mitmenschlichkeit und ein Zeichen der Hoffnung. Meine Mutter, die 2015 starb, pflegte zu sagen: „Wenn sich eine Türe verschließt, dann öffnet sich eine andere“, und ich bin gewiss, dass sie dabei auch an diesen Moment im kalten Februar des Jahres 1984 dachte. 

In Niederschelden kam ich zur Welt. Mein kleiner Bruder auch. Als Niederscheldener starb mein Vater. Meine kleine Schwester starb in Niederschelden, und auch meine Mutter schloss dort für immer ihre Augen. Von Niederschelden aus trat meine Oma ihre letzte Reise an, und in Niederschelden begruben wir Oma Philipine. Mehr Heimat geht nicht, und eine andere Heimat will ich nicht. 

Ja, Niederschelden ist ein Inseldorf. Aber seine Menschen sind keine Inseln, keine Ansammlung einsamer Felsen auf hoher See, kein Archipel. Sie kümmern sich. Sie schauen nach dem Nachbarn, und sie achten aufeinander. Natürlich weiß ich, dass meine Erinnerung an die Niederscheldener idealisiert ist. Sie sind ja nicht alle solidarisch und hilfsbereit. Es gibt gute wie schlechte, emphatische wie rassistische. Wenn ich sie heute alle in Bausch und Bogen in rosaroten Farben male, ist da jede Menge Selbstbetrug im Spiel. Aber exakt das ist es doch in Wirklichkeit, was wir Heimat nennen: eine Erinnerung, die keine ist, zusammengerührt aus einem wilden Mix von Fakten und Wahrheit, Illusionen und Lügen, Träumen, Albträumen und, mit ein wenig Glück, etwas Liebe hier und da. Aber wir brauchen das. Selbst eine Fake-Erinnerung kann Halt geben. John Lennon hat recht: Whatever gets you through your life, it’s all right, it‘s all right. 
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