So verließen wir 1980 Essen, um nach Ankara zurückzukehren. Ich wurde auf der deutschen Botschaftsschule eingeschult und vergaß Essen langsam. Bis zu dem Tag zwei Jahre später, an dem mein Vater seine nächste Versetzung verkündete: Er würde als Generalkonsul nach Düsseldorf gehen. Jubel brach aus. Ich brauchte diesmal keinen Kinderatlas, ich wusste, wo Düsseldorf war – keine 30 Kilometer von Essen entfernt.
Auch meine Mutter freute sich, da wir viele Freunde in der Gegend hatten, die wir jetzt wiedersehen würden. So kam ich in die neunte Klasse des Clara-Schumann-Gymnasiums in Düsseldorf. Und als mein Vater 1986 wieder versetzt wurde, beschloss ich, allein in Deutschland zu bleiben.
Ich war in der zwölften Klasse und hatte kein Interesse daran, meine Freunde aufzugeben, in ein Internat zu gehen oder meinen geliebten Tennisclub in Düsseldorf zu verlassen, den TC 50 im Rheinstadion. Meine Eltern akzeptierten diese Entscheidung und mieteten mir eine Wohnung in Düsseldorf an.
So war ich der Einzige in meiner Stufe, der in der zwölften und dreizehnten Klasse allein wohnte. Es waren aufregende Jahre. Ich musste alles selbst erledigen und lernen, all die alltäglichen Probleme selbst zu lösen. Mein größtes Problem: das Geld. Meine Eltern hatten mir so viel hinterlegt, dass ich damit bis zum Abitur auskommen sollte. Nur leider hatte sich das Geld nach der Hälfte der Zeit pulverisiert; ich weiß bis heute nicht wie. Da ich mich nicht traute, meine Eltern nach mehr zu fragen, musste ich einen Job finden. Aber als was hätte ich arbeiten sollen? Und wann? Ich hatte doch so schon kaum Zeit neben dem Sport und dem Lernen.
Ich gab den Gedanken bald wieder auf. Was macht ein junger Mensch, der knapp bei Kasse ist? Er schüttet der Oma sein Herz aus. Und – welch Glück! – sie hatte vollstes Verständnis. Und unterstützte mich diskret und zuverlässig bis zum Abitur.
Während meines BWL-Studiums in Münster begann ich, mich für Politik zu interessieren. Bis dahin hatte ich kaum Kontakt zu Türken gehabt, abgesehen von den Bekannten oder Freunden meiner Eltern. Auf meinem Gymnasium, im Tennisclub? Begegnete ich ihnen kaum.
Das änderte sich nun. Gleich im ersten Semester traf ich die ersten Türken, wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich entdeckte, dass ich nicht nur einer deutschen, sondern auch einer türkischen Welt angehörte. Ich selbst hatte mich stets als Weltbürger verstanden, als jemand, der überall zu Hause ist. Nun wurde mir klar, dass die Deutschen in mir stets „den Türken“ sahen, verstand, dass es in Deutschland ein Türkenbild gab, das mir bis dahin nicht bewusst gewesen war. Das beschäftigte mich sehr.
Ich wollte etwas tun. Ich wollte, dass wir Türken uns vernetzen und austauschen und gemeinsam dafür sorgen, Vorurteile abzubauen. Und gründete zusammen mit meinen Freunden einen Verein, die European Association of Turkish Academics (EATA). Der englische Name war bewusst gewählt, um unseren internationalen Anspruch zu unterstreichen. Binnen zwei Jahren hatte der Verein über 800 Mitglieder in sechs Ländern und entwickelte eine geradezu magische Anziehungskraft für junge Türkinnen und Türken der zweiten Generation.
Sie wollten sich mit Gleichgesinnten vernetzen, sie hatten die gleichen Fragen: Wer bin ich? Ein Türke? Eine Schwäbin? Ein Europäer? Und was folgt daraus?
Der zweite Verein, den ich mitgründen durfte, war die Liberale Türkisch-Deutsche Vereinigung (LTD). Die Idee dahinter: Viele Türkinnen und Türken – gerade jene, die eingebürgert und stolze Besitzer eines deutschen Passes sind – fühlen sich liberalen Ideen verbunden. Wir fragten uns: Wie können Deutsche mit türkischen Wurzeln aktiv an der Politik mitwirken? Braucht die deutsche Politik überhaupt Menschen mit Migrationshintergrund? Wie ermutigen wir Migrantinnen dazu, mitzumachen?
Unter der Führung von Arif Babür Ordu und Mehmet Gürcan Daimagüler begründeten wir in Bonn die LTD. Auch viele Deutsche waren unter den Gründungsmitgliedern, darunter Klaus Kinkel, Guido Westerwelle, Wolfgang Kubicki und viele weitere führende FDP-Politiker.
Meine Studienjahre waren geprägt vom Engagement in diesen beiden Vereinen, der EATA und der LTD. Es war für mich eine Zeit der Selbstfindung. Und ohne es zu ahnen, habe ich in diesen Jahren die freundschaftliche Basis für ein Netzwerk gelegt. Es ist ein loses Netzwerk von sehr unterschiedlichen Menschen. Sie kommen aus allen Schichten, aus vielen Gegenden in der Türkei, wählen unterschiedliche Parteien und haben heute alle möglichen Berufe – vereint in der Überzeugung, die deutsche Einwanderungsgesellschaft mitgestalten zu wollen.
Heute bin ich Unternehmer, manche sagen: Start-up-Entrepreneur. Ich habe 15 Jahre in einer Unternehmensberatung und danach bei führenden E-Commerce-Firmen gearbeitet. In beiden Jobs fühlte ich mich wohl, doch dann bin ich einem schwedischen Unternehmer begegnet, der mein Leben noch einmal auf den Kopf gestellt hat.
Ich war fasziniert von seiner Persönlichkeit und seinen Ansichten, seiner Verantwortungsbereitschaft und seinem Mut, ganz neu in die Zukunft zu schauen. Freiheit statt Villa, Start-up statt Status – das war sein Motto, es hat auch mich inspiriert. Bislang habe ich an die 20 Unternehmen gegründet und in mehr als 40 Start-ups investiert.
Mein Vater war Berufsdiplomat, meine Mutter Kunsthistorikerin. Das Unternehmertum wurde mir also nicht in die Wiege gelegt. Es bedurfte einer Inspiration – in meinem Fall durch den schwedischen Unternehmer –, um in diese neue Welt einzutauchen. Und jetzt ist es an mir, Jüngere anzuleiten und ihnen ein Vorbild zu sein.
Ich habe die Hoffnung, dass wir in der Zukunft nicht mehr über Herkunft und Integration sprechen müssen, sondern uns wichtigeren Fragen widmen können. Klimawandel, Digitalisierung, Ungleichheit – das sind Themen, die uns bewegen sollten. Hoffentlich werden meine Kinder und ihre Generation eines Tages zurückschauen und sich wundern, warum „das andere“ so lange dämonisiert wurde.
60 Jahre sind seit dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vergangen und ich durfte ein Teil dieser Reise sein. Nein, ich bin kein Gastarbeiterkind. Aber so vielfältig, wie die deutsche Gesellschaft ist, so vielfältig ist die Geschichte der Türkinnen und Türken in Deutschland.