Ekin Deligöz

„Auf Festen tanzte man nicht mit mir. Ich gehörte nicht dazu“

Kaum fühlte sie sich in der Welt der Deutschen angekommen, fiel sie in der türkischen Community in Ungnade. Ihr Ausweg: die Politik. Seit vielen Jahren ist Ekin Deligöz für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag und tritt ein für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, in die sie sich selbst hineinkämpfen musste.

Ekin Deligöz, geboren am 21. April 1971 in Tokat, Türkei, ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags für Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist Mitglied im Haushaltsausschuss, Obfrau im Rechnungsprüfungsausschuss und Sprecherin für Kinder- und Familienpolitik ihrer Fraktion. Sie hat in Konstanz und Wien studiert und ist Diplom-Verwaltungswissenschaftlerin. Berufliche Erfahrungen erwarb sie bei Arbeitsaufenthalten im In- und Ausland. Sie ist Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes, Mitglied des Komitees bei UNICEF Deutschland, und seit Februar 1997 ist sie deutsche Staatsbürgerin. Deligöz ist Trägerin der Bayerischen Verfassungsmedaille in Silber.
Im Herbst 1979 kam ich mit meiner Mutter zu unserem Vater nach Deutschland. Bald wurde ich eingeschult in einer Grundschule in Senden, südlich von Ulm. Allerdings ging ich in die „türkische Klasse“. Unsere türkischen Lehrer unterrichteten uns in einem Seitenflügel der Schule nach dem türkischen Lehrplan – auf Türkisch. Selbst die Pausenhöfe waren getrennt: Die deutschen Schüler spielten im Innen-, die türkischen Schüler im Hinterhof.

Manchmal hingen wir am eisernen Gittertor, das uns trennte, um einen Blick in die deutsche Welt zu erspähen. Irgendwie schien dort alles glänzender und interessanter zu sein. Die Fenster der Klassenzimmer waren bunt geschmückt, während in unseren Klassenzimmern Fahnen und vergilbte Unterrichtsmaterialien hingen, die unsere Lehrer in ihrem Handgepäck nach Deutschland mitgebracht hatten. Alles bei uns schien veraltet, alles signalisierte uns: Ihr gehört nicht dazu. 

Die anderen waren drinnen. Wir waren draußen. 

Das Einzige, was uns mit Deutschland verband, waren zwei Schulstunden in der Woche, unterrichtet von einer deutschen Lehrerin. Wobei sie uns fortwährend daran erinnerte, dass wir eigentlich „hoffnungslose Fälle“ seien – schließlich seien unsere Eltern „Analphabeten“. Das stimmte so nicht, schließlich gab es seit Atatürk sehr wohl eine Schulpflicht auch in der Türkei. Aber unsere Eltern hatten uns gelehrt, Erwachsenen nicht zu widersprechen, das sei unhöflich. So widersprachen wir der Lehrerin nicht, ließen sie in ihrem Glauben und blieben die hoffnungslosen Fälle. Immerhin lernte ich so das Wort „Hoffnung“. 

Doch ich fand mich damit nicht ab. Ich wollte dazugehören und nicht außen vor bleiben. Ich wollte teilhaben an der bunten, deutschen Welt. Meine Mutter erklärte mir, das gehe nur, wenn ich gut Deutsch spreche. Also lernte ich Deutsch, mithilfe von Wörterbüchern und der „Sendung mit der Maus“. Es waren viele Stunden des Paukens, Stunden voller Tränen, Frust und Anstrengung. Aber dann öffnete sich die Tür: Nach einem halben Jahr wechselte ich in eine deutsche Klasse. 

Ich wurde zu einem Innenhofkind. Ich begann, deutsch zu reden, zu denken und zu leben. Das eröffnete mir neue Perspektiven und entfremdete mich von meinen türkischen Freundinnen. Es war die Zeit von Entweder-oder. Meine Freundinnen waren immer noch draußen, während ich drinnen war. Ein Zaun und ein Gittertor trennten uns. Ich fühlte mich einsam. 

Zum Glück änderte sich das, als ich aufs Gymnasium wechselte. Ich war zwar die einzige Türkin in der Klasse, aber das war irgendwie egal. Ich war jetzt eine ganz normale Schülerin. Ich gehörte dazu und glaubte, endlich angekommen zu sein. Eine schöne Schulzeit begann. 

Ich erinnere mich an unseren Deutschlehrer. Er war unser Lieblingslehrer. Jeden Morgen begrüßten wir ihn mit tollen Tafelbildern, mit auswendig gelernten und selbst geschriebenen Geschichten. 

Bei der alljährlichen Froschwanderung wollten wir von der Umwelt-AG Frösche davor bewahren, bei der Überquerung einer Schnellstraße hinter der Schule unter die Räder zu kommen. Also statteten wir uns mit Gummistiefeln, Eimern, Plastikhandschuhen und Taschenlampen aus. In der Dunkelheit machten wir uns auf den Weg, um Frösche einzusammeln. Bald fanden wir einen Frosch, der sich allein auf den Weg gemacht hatte. Zu dritt bugsierten wir ihn in unseren Eimer, trugen diesen – natürlich mit einer Armlänge Distanz – auf die andere Straßenseite und entließen ihn in die Freiheit. Voller Freude leuchteten wir unserem Biolehrer mit drei Taschenlampen ins Gesicht, um uns Lob abzuholen für die gute Tat. „Das habt ihr ganz toll gemacht, Mädels“, lobte er. „Es war allerdings die falsche Straßenseite.“ 
Stolz gab ich die Arbeit ab – und bekam eine Fünf. Ich ging zum Lehrer und beschwerte mich. Seine Antwort traf mich wie ein Blitz. „Türken gehören nicht auf das Gymnasium, und du gehörst auch nicht hierher. Ich will dir nur einen Gefallen tun.“
Klinge ich wie eine typische Grüne, die von der Rettung der Frösche schwärmt? Ja genau, aber so fand ich zu meinem ökologischen Bewusstsein. Nicht als Migrantin oder Ausländerin, sondern als Schülerin, die sich um die Tiere und Pflanzen in ihrer Nachbarschaft sorgte.

In der Theater-AG inszenierten wir „Die Chinesische Mauer“ von Max Frisch. Ich spielte Kleopatra und war außerdem zuständig für die Kostüme. Mein Lehrer und ich gingen in einen Stoffmarkt. Zu gestalten waren fünf Bühnenbilder und an die 20 Kostüme. Unser Budget: 100 D-Mark. Das war knapp bemessen. Aber es gibt immer eine Lösung, wenn auch die Vorhänge meiner Mutter daran glauben mussten. 

Für meine Mutter war Kultur immer ein Inbegriff von Freiheit. Die Freiheit, die in unserem Herkunftsland nicht allen selbstverständlich zur Verfügung stand. Kultur, die Menschen miteinander verband und einander nahebrachte. 

Warum erzähle ich das alles? Weil es auch für mich eine normale Kindheit gab. Sie war nur deshalb möglich, weil es Menschen gab, für die meine Herkunft keine Rolle spielte, nur meine Person. 

Aber ich lebte in zwei Welten. Es gab die geschützte, lebendige, freie Welt der Schule. Und es gab die türkische Gemeinschaft. Dort galt ich als „Verlorene“. Es gab wenig Verständnis dafür, dass ich in die Schule ging, anstatt als Putzhilfe Geld zu verdienen. In den Augen dieser Leute war ich der türkischen „Heimat“ entfremdet. Ich war keine, die mit 15 Bewerbungen für Hilfsjobs schrieb, mit 16 anfing, an ihrer Aussteuer zu arbeiten, mit 17 an ihre Hochzeit dachte. Sondern eine, die perfekt Deutsch sprach, die mit den „Schweinefressern“ zusammensaß, wie manche lästerten, eine, die womöglich selbst Schweinefleisch aß, wer weiß das schon? Auf Festen tanzte man nicht mit mir, auf der Straße grüßte man mich nicht. Ich gehörte nicht dazu. Es tat weh, aber ich kam damit zurecht. 

Andererseits brauchte die türkische Community meine Fähigkeiten. Meine Aufgaben waren vielfältig: Nachhilfe geben, Hausaufgaben betreuen, in Ämtern und Arztpraxen übersetzen, Unterlagen ausfüllen. Ich kam und half. Im Gegenzug nahm ich mir die Freiheit, aufs Gymnasium zu gehen. Ich musste nicht dazugehören. Denn ich gehörte ja zu meiner deutschen Schule. 

Wobei. Gehörte ich dazu? 

Ich schrieb eine Erörterung als Hausarbeit. Selbst gewähltes Thema: „Argumente für und gegen den Bau einer Müllverbrennungsanlage“. Ich holte Informationen von der Bürgerinitiative vor Ort ein, ließ die Arbeit von meinem deutschen Stiefvater gegenlesen und korrigieren. Stolz gab ich die Arbeit ab – und bekam eine Fünf. 

Warum? Das war nicht fair. So schlecht konnte die Arbeit nicht sein. Ich ging zum Lehrer und beschwerte mich. Seine Antwort traf mich wie ein Blitz. „Weißt du, Ekin, wenn man Behinderte bei der Olympiade mitlaufen lassen will, ist es doch klar, dass sie nicht mithalten können und auf der Strecke bleiben“, sagte er. „Türken gehören nicht auf das Gymnasium, und du gehörst auch nicht hierher. Ich will dir nur einen Gefallen tun.“ 

Ich beschloss, mich zu wehren, und lief zu unserem Vertrauenslehrer. Er hörte sich alles an, auch mein Klassenlehrer und der Rektor hörten mich an. Sie nickten. An der Note änderte sich allerdings nichts. Die Ungerechtigkeit blieb und verwandelte sich in Wut. 

Erst viel später erfuhr ich, dass der Rektor besagten Lehrer auf der Lehrerkonferenz öffentlich ermahnt hatte. Ich bekam davon nichts mit. Niemand sagte mir damals, dass mein Handeln etwas bewirkt, vielleicht sogar verändert hatte. 

Da war er wieder, der Zaun. Die anderen waren drinnen, und ich war draußen. Ich gehörte nicht dazu, weder zu der einen noch zu der anderen Seite. Dabei war ich nur eine Schülerin, ein Teenager. Ich wollte lernen, ich war neugierig. Und schon schlug wieder jemand eine Tür vor mir zu. Gab es keinen Platz für mich? Wo gehörte ich hin? 

Dieser Lehrer, der mir „einen Gefallen“ hatte tun wollen, hat mich auf brutal-zynische Weise tatsächlich auf das Leben vorbereitet. Auf die Härten, die noch kommen sollten. 

Ich war vorbereitet, als ich mich während meines Studiums auf Wohnungssuche begab und bei einer Besichtigung zu hören bekam „Wie, ich dachte, da kommt eine Studentin, und jetzt kommt eine Türkin?“ 

Ich war vorbereitet, als mich ein Schaffner im Zug fragte: „Sie haben doch einen türkischen Namen, wie kommen Sie an ein Erste-Klasse-Ticket?“ 

Ich war vorbereitet, als mich bei meiner Einbürgerung kurz vor meinem Diplomabschluss als Verwaltungswissenschaftlerin die Sachbearbeiterin fragte: „Wissen Sie als Ausländerin eigentlich, was Pflichten in einem Land sind? Haben Sie schon mal was von einer Verfassung gehört?“ 

Ich war vorbereitet, als zahlreiche Morddrohungen und Fatwas, islamische Urteilssprüche, mich erreichten, weil ich mich für Frauenrechte im Islam einsetzte und mich gegen Kopftücher positionierte. 

Ich war vorbereitet auf die vielfältigen Formen eines Mikrorassismus, den viele „nicht so meinen“, aber irgendwie dann doch. Denken Sie nicht, dass wir Migrantinnen und Migranten uns jemals daran gewöhnen werden! An diese kleinen Stiche, die jedes Mal aufs Neue wehtun. Die uns nicht entgehen, die uns das Leben schwer machen, die uns mürbe machen und kraftlos. 

Ich werde nicht aufhören, dem mit all meinem Mut entgegenzutreten. Für alle Generationen von Migrantenkindern, die nach mir kommen. Denn sie sollen als mündige, selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger dieses Landes aufwachsen: als Demokratinnen und Demokraten in einem Rechtsstaat, optimistisch und zuversichtlich. Sie sollen die Chance bekommen, selber zu bestimmen, wer sie sind und wohin sie gehören. 

Heute dreht sich mein Alltag als grüne Bundestagsabgeordnete nach dem Rhythmus von Sitzungs- und Wahlkreiswochen. Im Haushaltsausschuss bin ich unter anderem Hauptberichterstatterin für den Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Haushaltspolitik gilt im Bundestag als die Königsdisziplin, denn sie setzt viel politisches Wissen und Erfahrung voraus. 

Ausschüsse, Parteiarbeit, Interviews, Reden, Empfänge, Bürgersprechstunden: Meine Arbeit erfordert Fleiß, Zeit und Anstrengung und hat einen Preis. All die langen Stunden des Unterwegsseins, die Debatten, in die sich immer wieder Hass und Aversion mischen. Und immer wieder muss ich mich dafür rechtfertigen, in diesem Land Verantwortung zu übernehmen. 

Aber ich mache es aus Überzeugung. Und weil ich ein Ziel habe: Brücken zu bauen, Zäune niederzureißen, Türen zu öffnen. Ich kämpfe für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, in die ich mich selbst einst hineinkämpfen musste. Ich will diese Gesellschaft mitgestalten und verändern, und ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass wir aus Fehlern lernen. Niemand soll mehr um die eigenen Kinder weinen müssen, die Opfer von Rassismus und Hass geworden sind. Ich werde alles tun, damit Zäune und Gittertore verschwinden. 

Mein damaliger Deutschlehrer schrieb mir einst ein Gedicht in mein Poesiealbum. Vielleicht ahnte er, dass mein Weg steiniger sein würde als der meiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Es ist von Bertolt Brecht und heißt „Der Pflaumenbaum“. 

Im Hofe steht ein Pflaumenbaum, Der ist so klein, man glaubt es kaum. Er hat ein Gitter drum, So tritt ihn keiner um. Der Kleine kann nicht größer wer’n, Ja – größer wer’n, das möcht’ er gern! ’s ist keine Red davon: Er hat zu wenig Sonn’. Dem Pflaumenbaum, man glaubt ihm kaum, Weil er nie eine Pflaume hat. Doch er ist ein Pflaumenbaum: Man kennt es an dem Blatt.

Danke an all diejenigen, die den Baum in mir erkannt haben und in ihren Schülerinnen und Schülern immer wieder erkennen. Lassen Sie uns allen eine Chance zu mehr Miteinander und Zusammenhalt geben. Lassen Sie uns gemeinsam Zäune überwinden. 
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