Bilkay Öney

„Als Kind fand ich es sehr anstrengend, anständiger, ehrlicher und fleißiger als alle anderen Kinder sein zu müssen.“

2011, das erste rot-grüne Kabinett in Baden-Württemberg. Integrationsministerin wird eine junge, selbstbewusste Berlinerin mit geradem Rücken und klarer Kante. Die CDU überzieht sie mit parlamentarischen Anfragen. Doch davon lässt sich Bilkay Öney nicht beirren.

Bilkay Öney, geboren 1970 in Malatya, Türkei, kam 1973 als Gastarbeiterkind nach Deutschland. Sie wuchs in Berlin-Spandau in der britischen Besatzungszone auf. Im Gymnasium war sie das einzige „Türkenkind“ in ihrer Klasse. Maßgeblich sozialisiert wurde sie durch den Bund Deutscher Pfadfinder. Nach ihrem Studium der BWL arbeitete sie zunächst in einer Bank, später bei einem Fernsehsender. Durch die journalistische Arbeit kam sie zur Politik und wurde 2006 Abgeordnete für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. 2009 wechselte sie zur SPD. 2011 wurde sie erste türkischstämmige Ministerin der SPD im ersten grün-roten Kabinett von Baden-Württemberg. Seit 2018 ist sie Geschäftsleiterin des Landesbetriebs für Gebäudebewirtschaftung in Berlin, zuständig für Flüchtlingsunterkünfte.
Als ich im April 1973 mit zweieinhalb Jahren weinend im Flieger von Istanbul nach Berlin saß, konnte ich nicht ahnen, dass ich im April 2011 erste türkischstämmige Ministerin in einem wohlhabenden Flächenland werden würde.

Ich kann nicht behaupten, dass der Weg dahin sehr einfach war. Und geweint habe ich danach auch oft. Die Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen war nie einfach, nie linear. Immer gab es Höhen und Tiefen, gute und schlechte Zeiten. So auch in meiner wundersamen Geschichte. Dass ich Ministerin wurde, war dennoch keineswegs selbstverständlich. Dafür bin ich all denen, die das ermöglichten, zu aufrichtigem Dank verpflichtet. 

Meine Geschichte beginnt mit meinen Eltern, einem sozialdemokratisch-kemalistisch geprägten Lehrerpaar aus Ostanatolien, das uns drei Kinder (Mädchen) zu Fleiß, Anstand und Ehrlichkeit anhielt. Als Kind fand ich es sehr anstrengend, anständiger, ehrlicher und fleißiger als alle anderen Kinder sein zu müssen. Aber vermutlich wollten meine Eltern einfach nur, dass wir gute Menschen und Bürgerinnen werden – ganz egal wo. Ihre Erziehung hat mich maßgeblich geprägt. 

In Spandau, der britischen Besatzungszone, damals letzte Ausfahrt vor Hannover, wo ich aufwuchs, gab es in den 70ern eine heile Welt. Auch das prägte. Frau Nitsch, unsere Nachbarin, war eine alte Dame aus Hannover. Sie lebte allein als Witwe und schenkte mir ab und zu Süßigkeiten. Wichtiger war aber, dass sie mit mir hochdeutsch sprach. Niemand soll beleidigt sein, wenn ich das so ungeschützt sage, aber ich glaube, dass die Niedersachsen Hochdeutsch am besten beherrschen. 

Meine Grundschullehrerin hieß Ellie Begoihn. Sie war als Flüchtlingskind aus Pommern gekommen und hatte sehr darunter gelitten, Flüchtlingskind zu sein. Es mag sein, dass ihre Erlebnisse aus dieser Zeit sie dazu bewogen, lieb zu uns „Türkenkindern“ zu sein. Vielleicht war sie aber auch nur ein guter Mensch und eine gute Lehrerin. Vermutlich beides. 

Hin und wieder erlebten wir Dinge mit anderen Lehrer:innen, die wir als unangenehm oder ungerecht empfanden. Heute sprechen wir offen über Diskriminierung. Damals war es ein negatives Erlebnis oder Gefühl. Etwas, was man nicht erklären konnte, aber sehen und fühlen. Das waren die Momente, die Tränen erzeugten. 

Unsere Musiklehrerin wiederum, Renate Kiwi, war eine herzliche Fränkin, die Diskriminierung erlebt hatte, weil sie damals einen „Russen“ geheiratet hatte. Ich weiß nicht, ob es ein stilles Abkommen zwischen den Diskriminierten dieser Welt gibt oder ob es Solidarität ist, aus eigener Erfahrung heraus. All diese tollen Frauen und Menschen förderten und unterstützten mich. 

Als Kinder waren wir völlig unpolitisch. Unsere Lehrer:innen hingegen waren sehr politisch. So auch meine Eltern und ihre Lehrerkolleg:innen. Viele gehörten der 68er-Bewegung an. Es war eine politische Errungenschaft, dass Arbeiterkinder auf Gymnasien gehen und studieren konnten. Als ich auf das Gymnasium in Siemensstadt kam, war ich die einzige Türkin in der Klasse. Für mich war das traumatisch. Aber es fachte meinen Ehrgeiz besonders an, denn ich wollte kein Loser sein. 

Als ich anfing zu studieren, gab es eine Statistik, die darlegte, dass circa drei Prozent aller Türken studierten; nur ein Prozent schloss das Studium mit Erfolg ab. Ich will nichts Falsches sagen, aber ich gehörte wohl zu dieser kleinen Gruppe von Türken. 

Intelligenz hilft natürlich immer, aber es ist nicht nur das. Ich denke an die vielen intelligenten Kinder, die keine Förderung erfahren. Ich denke auch an all die negativen Erlebnisse, die man als Türke zwangsläufig macht. 

Mein guter Bekannter, der Anwalt der NSU-Opferfamilien Mehmet Daimagüler, sagte mal: „Türke sein ist nichts für Leute mit schwachen Nerven.“ Mehmet Daimagüler hat recht. Für zarte Seelen sind Vorurteile, Beschimpfungen, schlechte Nachrichten und schlechte Erlebnisse ungleich härter. Und über „Türken“ gab es immer negative Aufmacher.  
Oft fiel mir ein Satz des Schauspielers Birol Ünel ein, der einmal zu mir gesagt hatte: „Heute wollen sie unsere Gesichter, morgen unsere Ärsche.“ Er hatte recht: Wir „Migranten“ können nie sicher sein, was uns als Nächstes erwartet.
Britische Geheimdienstdokumente belegten wohl, dass Kanzler Helmut Kohl die Hälfte der damals in Deutschland lebenden Türken (insgesamt zwei Millionen), also eine Million, wieder in die Heimat zurückschicken wollte. Die Rückkehrprämie sollte die Rückkehr attraktiv machen.

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hatte hingegen andere Pläne: Ziel war, Türken durch gezielte Morde derart zu Tode zu ängstigen, dass sie freiwillig gingen. Welch perfider Plan! Die Wiedervereinigung Deutschlands war für viele Gastarbeiter:innen ein Einschnitt. Plötzlich kamen Ostdeutsche, die den Türken am Fließband offen ins Gesicht riefen: „Jetzt sind wir da, ihr könnt jetzt gehen.“ 

Der türkische Filmemacher Can Candan produzierte einen Dokumentarfilm über die Zeit der Wiedervereinigung und den Mauerfall: „Duvarlar – Mauern – Walls“. In einer Szene des Dokumentarfilms sagt ein Türke: „Wir freuten uns, als die Mauer fiel, aber sie fiel auf uns Türken.“ 

Noch heute beobachte ich diesen „Konkurrenzkampf“ zwischen „Ostdeutschen“ und „Migrant:innen“. Tragisch ist vermutlich, dass beide Gruppen immer noch um die Gunst der „Westdeutschen“ kämpfen müssen, wobei „Ostdeutsche“ es genau wie „Polen“ aufgrund der Namen viel einfacher haben. 

Es ist mühsam, die Studien aufzuzählen, die belegen, dass Menschen mit türkischen Namen häufiger diskriminiert werden als andere, im Bildungssystem, auf dem Wohnungsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt. Verständlich, dass viele sich daher für die Selbständigkeit entscheiden oder entschieden haben. 

Auch wenn Thilo Sarrazin türkische Unternehmer als Gemüseverkäufer belächelt, ich bin froh über jeden Gemüse- und Dönerverkäufer, der redlich sein Geld verdient, Steuern zahlt und die Nahrungsmittelversorgung auch zu später Stunde sicherstellt. Im Service sind Türken einfach unschlagbar. 

Ich bin große Anhängerin von türkischen Friseuren, Schneidereien und Werkstätten. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist oft unschlagbar – und die Freundlichkeit ist es auch. Zugegeben: Mein störrisches türkisches Haar haben nur türkische Friseure im Griff. By the way: Mein schwuler türkischer Friseur ist großartig. Meine Frauenärztin, mein Zahnarzt und meine Kieferchirurgin sind alle ganz großartig. 

Alle kamen als türkische Gastarbeiterkinder nach Deutschland und kämpften sich durch das Bildungssystem gegen große Widerstände in diese Positionen. Niemandem wurde etwas geschenkt, aber vermutlich wurden alle auch durch anständige deutsche Nachbar:innen, Lehrer:innen und Chef:innen unterstützt. Ohne die „guten Deutschen“ wäre all das nicht möglich gewesen. 

Herausragende Deutschtürken wie Fatih Akin, der mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet wurde, oder Ugur Sahin und Özlem Türeci, das türkische Ärztepaar, das den BioNTech-Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelte und im Frühjahr 2021 das Bundesverdienstkreuz erhielt, können das sicher bestätigen: Sie alle hatten vermutlich deutsche Förderer und Freunde. 

Die 60-jährige Geschichte zum Anwerbeabkommen mit der Türkei kann daher nicht erzählt werden, ohne die Deutschen zu erwähnen, die zur Erfolgsgeschichte beigetragen haben. Gäbe es diese Förderer nicht, gäbe es keine Fatih Akins, keine Sahins und Türecis, keine Shermin Langhoffs und keine Bilkay Öney. 

Nur, dass wir uns nicht missverstehen: Ich zähle mich zu den kleinen Lichtern. Das Besondere an meinem Licht aber ist, dass ich die erste türkischstämmige Ministerin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war. Für mich – als Kind sozialdemokratischer Eltern – eine besondere Ehre und Auszeichnung. Ich kann nicht behaupten, dass die SPD eine einfache Partei ist, aber sie ist eine alte, traditionsreiche und stolze Partei, in der es ungeschriebene Regeln gibt, die unbedingt zu befolgen sind. 

Als ich Ministerin wurde, war das Interesse an meiner Person riesig. Die Legendenbildung leider auch. Doch nie werde ich die lieben Menschen vergessen, die mich in das Amt brachten, mich unterstützten und mir auch in schwierigen Zeiten halfen. 

Ausgestattet mit einem privaten alten iPhone und einem Vermerk zum Status quo in Baden-Württemberg, stieg ich im Mai 2011 in den Zug nach Stuttgart und fuhr der neuen Aufgabe entgegen. Die lange Fahrt nutzte ich zum Lesen und zum Sortieren der Gedanken. Mir war nicht klar, was mich erwarten würde. Mir war nur klar, dass ich als „türkische Quotenfrau“ liefern musste. 

Oft fiel mir ein Satz des Schauspielers Birol Ünel ein, der einmal zu mir gesagt hatte: „Heute wollen sie unsere Gesichter, morgen unsere Ärsche.“ Er hatte recht: Wir „Migranten“ können nie sicher sein, was uns als Nächstes erwartet. Mal werden wir in den Himmel gehoben, dann in den Boden gestampft. Jeden schmälert garantiert eine negative Headline. Das Migrantinnen-Dasein gleicht einer Achterbahnfahrt. 

Mein Weg wurde besser, nachdem ich mit dem ehemaligen Landespolizeipräsidenten Baden-Württembergs Prof. Dr. Wolf-Dietrich Hammann einen hervorragenden Juristen und Menschen als Ministerialdirektor gewonnen hatte. Meine Abteilungsleiter im Integrationsministerium rollten am Anfang mit den Augen, als sie mich sahen. Schließlich hatten sie zuvor jahrelang im Innenministerium mit alten, weißen Männern gearbeitet. Eine mit 40 Jahren recht junge „Türkin“ aus Berlin mit SPD-Parteibuch war für sie neu. Für viele im zuvor schwarz-gelben Ländle war das nicht nur neu, sondern buchstäblich ein „rotes Tuch“. Sie ließen es mich oft spüren. 

Ich biss oft die Zähne zusammen, weinte heimlich und erinnerte mich daran, dass Pionierinnen es nie einfach haben. Meine rheinländische persönliche Referentin und mein schwuler Referent in der Berliner Landesvertretung heiterten mich in den trüben Momenten auf. Und meine Abteilungsleiter legten nach und nach ihre Skepsis ab. Wir erlebten viel gemeinsam. Das schweißte uns zusammen. Und die größte Anerkennung, die ich je erhielt, war, dass meine Abteilungsleiter nur gut hinter meinem Rücken sprachen 

Mit der Zeit verschwanden die Zuschreibungen, die mir als „Türkin“ viel Ärger und Leid beschert hatten. Aber jahrelang hatten die Unterstellungen und Behauptungen mich verletzt. So hatte die CDU im Landtag über 30 parlamentarische Anfragen nur zu meinem türkischen Hintergrund gestellt. Einige lokale Medien nutzten die vermeintlichen Skandalmeldungen. 

Eine studentische Studie der Hertie School of Governance kam später zu dem Ergebnis, dass der Umgang mit meiner Person „rassistisch“ gewesen sei. Ich selbst durfte das weder sagen noch denken. Als ich es einmal erwähnte, gab es einen Entlassungsantrag – und äußerst eigenartige Allianzen. Ich konzentrierte mich daher auf die Arbeit und die guten Menschen im Land. 

Übrigens gibt es nicht nur über „Türken“, sondern auch über „Schwaben“ unzählige Vorurteile und Legenden. Ich habe in den fünf Jahren, die ich in Baden-Württemberg verbrachte, so viele herzliche Menschen kennengelernt, dass sie mich oft auch zu Tränen gerührt haben. Vermutlich ist es so wie in Tolkiens Reihe „Herr der Ringe“. Es gibt immer einen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ – beziehungsweise umgekehrt, denn die Guten kämpfen nicht gegen andere, sie kämpfen nur für das Gute. All die Attribute, die man „Türken“, „Deutschen“, „Schwaben“ oder „Ostfriesen“ zuschreibt – in meiner Realität gibt es das nicht. Für mich gibt es nur „gute“ und „weniger gute Menschen“. 

Es wäre schön gewesen, wenn wir innerhalb der letzten 60 Jahre Fortschritte in diese Richtung gemacht hätten, wenn es gesellschaftspolitisch gelungen wäre, keine großen Unterschiede mehr zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft zu machen. Aber die Realität sieht weiterhin anders aus. 

Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, die viel Energie gekostet hat und Migrant:innen teilweise zu Menschen zweiter oder dritter Klasse gemacht hat, das Erstarken rechtsradikaler Kreise und Parteien, Anschläge auf Flüchtlinge und Migrant:innen – all das hat leider nicht zur Normalität beigetragen. Wir hätten in der Entwicklung viel weiter sein können. 

Leider haben auch die negativen politischen Entwicklungen in der Türkei den Graben insgesamt vergrößert. Es braucht also weiterhin Menschen und Initiativen, die das Potenzial und das Verbindende erkennen und fördern. 

Viele deutsch-türkische Freundschaftsvereine tragen dazu bei und auch binationale Paare. Die letzten 60 Jahre ist viel passiert, natürlich auch viel Gutes. Es wäre unfair, die positiven Entwicklungen nicht zu sehen. 

Apropos sehen: Eine Dauerausstellung in einem Migrationsmuseum könnte einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation leisten. Vorausgesetzt, dass es den Willen gäbe, diese Leistung zu erbringen. 

Je nach politischer Großwetterlage sind „Deutschtürk:innen“ oft Spielball von Interessen. Mal mehr und mal weniger interessant. Knapp drei Millionen Deutschtürk:innen in Deutschland sind aber eine große Minderheit, die nicht unbeachtet bleiben sollte. Sie könnte im Zweifel wahlentscheidend sein. 

Ich kann daher nur dringend raten und empfehlen, die Fehler der letzten 60 Jahre nicht zu wiederholen, damit die nächsten 60 Jahre für alle insgesamt einfacher werden.
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