Damla Hekimoğlu

„Das kalte Wasser wird schon warm, wenn man sich traut zu springen“

Mal lasen die Eltern ihr aus türkischen Kinderbüchern vor, mal aus deutschen. Bildung, Sprache, Teilhabe waren den Eltern wichtig – und Damla Hekimoğlu machte etwas daraus. Sie wurde Journalistin und gehört jetzt zum Moderatorenteam von ARD-aktuell.

Damla Hekimoğlu, geboren am 18. Mai 1988 in Stolberg, ist Nachrichtenmoderatorin bei ARD-aktuell im Team der „Tagesschau“ und arbeitet als Journalistin für den Westdeutschen Rundfunk. Sie berichtet über Politik, Weltgeschehen und gesellschaftliche Events. Mit ihren Reportagen, Moderationen und Interviews stand sie vor den Kameras von ARD und ZDF, dem WDR und der BBC. Für das Recherchenetzwerk von WDR, NDR und „Süddeutscher Zeitung“ war sie an investigativen Recherchen beteiligt. Als Vorstandsmitglied des Harvard Clubs Rhein-Main und Gründerin der internationalen Talkreihe „Harvard Club Talks“ interviewt sie Gäste aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie engagiert sich ehrenamtlich für Medienkompetenz und Nachwuchsförderung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher.
Ich bin Damla Hekimoğlu, Tochter von Filiz und Hüsnü Arsan Hekimoğlu. Wie oft wurde mein Vater Herr Hubschrauber, Herr Mogli oder Herr Eukalyptus genannt! Den Herrn Mogli kann ich ja noch irgendwie nachvollziehen, der Name ist nun mal für Deutschland ungewöhnlich. Hubschrauber und Eukalyptus aber zeigen, wie wenig sich manch einer mit uns befassen wollte.

Wie oft musste ich meinen Nachnamen buchstabieren. Erst letztens wieder, als ich per Telefon eine Interviewanfrage stellte. Ich fing an mit: „H wie Heinrich“, „E wie Emil“, „K wie Kaufmann“ … und schon wurde ich mit einem Stöhnen unterbrochen, gefolgt von: „Oh, das ist aber kompliziert. Kann ich auch einfach ‚die Frau vom WDR‘ sagen?“

Meinen Vornamen haben meine Eltern sorgfältig gewählt. Er sollte keinerlei Raum für Missverständnisse lassen. Sie haben sich gegen „Bade“ entschieden, damit ich im Kindergarten nicht mit Wortspielen à la „Bade, geh mal baden“ gehänselt würde. Dabei wäre Bade ein schöner Vorname gewesen, Bade heißt „Liebe“.

Bei Damla, Türkisch für „Tropfen“, dachten sich meine Eltern, dass es damit nicht zu Hänseleien und Wortspielen kommen würde. Die Aussprache sei doch einfach. Keine Sonderzeichen, nur zwei Silben – Damla wird doch jede und jeder aussprechen können.

Nun ja, Tanja, Daimler, Dammler … In Briefen und Mails gern auch „Herr Hekimoglu“. Ich werde wohl nie verstehen, wieso manche erst mal von einem Mann ausgehen, wenn sie einen unbekannten Namen lesen. Wieso kann man im 21. Jahrhundert nicht mal eben „Damla + Vorname“ googeln, um binnen Sekunden herauszubekommen, dass es sich um einen weiblichen Vornamen handelt?

Kalterherberg, das ist meine Heimat. Ein Dorf in der Eifel, am Hohen Venn gelegen, an der Grenze zu Belgien. Mit Schafen, Kühen und Pferden auf der Weide, Wanderwegen und viel Stille. Abends ab 20 Uhr ist gefühlt keine Menschenseele mehr unterwegs. Das Dorf hat nur etwas mehr als 2.000 Einwohner, eine Sparkasse, eine Bäckerei, einen Fahrradladen, einen Kaufladen, einen Hausarzt und einen Zahnarzt.

Der Zahnarzt – das ist mein Vater Hüsnü Arsan Hekimoğlu. Inzwischen wird er von allen im Dorf freundlich als „Herr Hekimoluh“ angesprochen. So, wie es richtig ist. Denn das ğ mit Breve obendrauf ist im Türkischen stumm.

Anfang der 70er-Jahre macht mein Vater seinen Militärdienst in Südostanatolien. Er hat Zahnmedizin studiert, mit der Erlaubnis des Kommandanten darf er eine private Praxis eröffnen und außerhalb der Dienstzeiten Patienten behandeln. Er arbeitet also von sieben bis 18 Uhr als Militärzahnarzt und danach weiter in seiner eigenen Praxis, bis 21, manchmal 22 Uhr. Bis eines Tages ein Deutscher zu ihm in die Sprechstunde kommt.

Er heißt Rupert Röller, ist Ingenieur und gemeinsam mit seinem Team in der Gegend, um einen Zementofen zu bauen. Herr Röller hat Zahnschmerzen. Zum Glück geht’s bei der Zahnbehandlung um das medizinische Know-how und nicht um die Sprache – sonst würde mein Vater kläglich versagen. Sie verständigen sich mit Händen und Füßen und seinem bescheidenen Schulenglisch.

Während der Behandlung sieht mein Vater, dass Herrn Röller zwei Zähne fehlen. Er bietet ihm an, Brücken anzufertigen, nennt ihm den Preis für die Behandlung in gebrochenem Englisch und geht ins Labor. Als er zurückkommt, steht Herr Röller im Wartezimmer und schaut sich die Preisliste auf Türkisch an, auf der die Kosten für die Zahnbehandlung detailliert aufgelistet sind.
Unsere Eltern sahen es gern, wenn mein Bruder und ich den Weihnachtsgottesdienst besuchten. „Das ist doch auch ein Gotteshaus“, sagten sie. Wir falteten die Hände zusammen und sagten leise „Amin“ – Türkisch für „Amen“.
„Warum schauen Sie sich die Liste an? Sie verstehen doch kein Türkisch“, sagt mein Vater. Worauf Herr Röller in perfektem Türkisch antwortet, dass seine Frau Türkin sei und er nicht nur diese, sondern auch sieben weitere Sprachen beherrsche. Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut, wenn mir mein Vater diese Geschichte erzählt.

Auf die Frage meines Vaters, warum er nicht früher mit ihm Türkisch gesprochen habe, antwortet Röller: „Überall auf der Welt werden Fremde übers Ohr gehauen. Ich wollte sichergehen, dass Sie ehrlich sind. Machen Sie mir gerne diese Brücken.“

Das ist der Anfang einer Freundschaft – und die Basis dafür, dass mein Bruder und ich in Deutschland auf die Welt gekommen sind. Mein Vater nimmt nämlich das Angebot von Rupert Röller an, nach Deutschland zu kommen. Der will ihm helfen, hier einen Job zu finden.

Wenige Monate später, im Juni 1972, kommt mein Vater am Flughafen Köln an. Im Gepäck einen Anzug, zwei Hosen, Unterwäsche, ein paar Hemden und T-Shirts, ein deutsch-türkisches Wörterbuch und ein bisschen Geld. Mit Herzklopfen klingelt er an der Tür eines Hauses in Köln-Mülheim, dem Zuhause der Röllers. Dort wohnt er die ersten Monate. 

Bis heute schwärmt mein Vater davon, wie viel Hilfsbereitschaft ihm in Deutschland begegnet ist – angefangen vom Flughafen bis hin zu einem Vorstellungsgespräch eine Weile später, als es darum geht, als Zahnarzt angestellt zu werden. Viele gutherzige Menschen, sein Fleiß und seine Zielstrebigkeit sorgen dafür, dass er bald seine eigene Zahnarztpraxis in der Eifel eröffnen kann und heute, mit 77 Jahren, immer noch leidenschaftlich gern seinem Beruf nachgeht. 

Mein Vater hat den „German Dream“ gelebt – er ist für mich das beste Beispiel dafür, dass das kalte Wasser schon warm wird, wenn man sich nur traut zu springen. Und dass man sich auch in einem Dorf, in dem es kaum Ausländer gab, in die Herzen der Menschen leben kann – so sehr, dass sie sich buchstäblich „einen Türken“ als Nachfolger für die Praxis meines Vaters wünschen, wenn er mal in Rente geht – als würden Sympathien und Kompetenzen von der Nationalität abhängen. Es ist natürlich etwas anderes: Mit dem Spruch wollen sie ihm zeigen, wie gern sie ihn haben. Wie viele Menschen haben bei ihm auf dem Behandlungsstuhl gesessen, wie viele hat er von quälenden Zahnschmerzen befreit! 

Auf dem Land sind die Wege länger – wie oft haben die Menschen im Dorf nach Feierabend bei uns zu Hause geklingelt, wenn sie vor Schmerzen litten, aber nicht den weiteren Weg zum Notdienst auf sich nehmen wollten. Wie oft ist er dann außerhalb seiner Arbeitszeit in die Praxis gegangen, abends und nachts, um sie zu behandeln und von ihren Schmerzen zu erlösen. 

Ostern 1984 lernt er meine Mutter in der Türkei kennen. Und dann schreiben sich die beiden erst mal über mehrere Monate Briefe. Im Juni 1984 verloben sie sich, im November heiraten sie, am 29. Dezember kommt meine Mutter mit meinem Vater nach Deutschland.  

Auch für sie ist es die erste Auslandsreise, auch sie kann damals kein Wort Deutsch, auch sie ist zum ersten Mal von ihrer Familie getrennt. Wie mutig sie ist – mit einem One-Way-Ticket in ein fremdes Land aufzubrechen, zu einem Mann, den sie erst seit wenigen Monaten kennt. Es gibt ein Foto von jenem Tag, sie sieht schick aus und trägt einen blauen Pullover, einen Faltenrock und eine Lederjacke. Sie ahnt nicht, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens in Kalterherberg verbringen wird.

Kurze Zeit später bekommt sie Deutschunterricht. Zunächst zehn Stunden privat, dann zwei bis drei Monate in der Volksschule – bis bei ihr die Übelkeit anfängt. Sie ist schwanger.

1986 wird mein Bruder Onat geboren, eineinhalb Jahre später erblicke ich das Licht der Welt. Meine Mutter spricht damals nur gebrochenes Deutsch – doch der Wille, uns beide zweisprachig zu erziehen, ist riesig. Also wird zu Hause Türkisch gesprochen, im Kindergarten Deutsch. An einem Abend lesen uns unsere Eltern türkische Kinderbücher vor, am nächsten Abend deutsche Kinderbücher. 

Ich habe immer noch die Stimme meiner Mutter im Ohr, wie sie uns in gebrochenem Deutsch vorliest. Jahre später, als unser Deutsch besser ist als ihres, werden wir manchmal ungeduldig und beenden vorlaut das Wort, während sie es noch buchstabiert. Zugleich gibt sie uns privaten Türkischunterricht und belohnt uns mit Spielzeug für jedes Lehrbuch, das wir mit einer „Prüfung“ beenden.

Wenn wir uns als Kinder Spielzeuge, Klamotten oder sonstige Sachen gewünscht haben, wurden uns die Wünsche natürlich nicht immer erfüllt. Es gab Warte- und Wunschlisten genauso wie konsequente Absagen. Widerspruch zwecklos. 

Manchmal mussten wir uns die Sachen auch verdienen, indem wir für Vater Akten geschreddert, Schnee geschippt oder eben türkische Schulbücher durchgearbeitet haben. Meine Eltern wollten, dass wir in beiden Welten sicher auftreten. Dass wir in unserer Heimat Deutschland zu Hause sind und dabei unsere Herkunft, Kultur und Sprache nicht vergessen.

Bei jeder sehr guten Note gab es ein paar Mark Taschengeld als Belohnung. Bei jeder halben Note, die schlechter war, gab’s Abzüge – und bei allen Noten ab „ausreichend“ mussten wir blechen. Ein ausgeklügeltes System. Für zwei Dinge gab es immer unbegrenzten Kredit – Bücher und beim Studium. Mein Vater hat uns versprochen: Wir dürfen studieren, wo immer wir wollen, er würde uns unterstützen. Auf Bildung haben unsere Eltern großen Wert gelegt. Für sie war das ein essenzieller Baustein dafür, dass eine Gesellschaft gut funktioniert. 

Ohne christlichen Hintergrund ging ich in den katholischen Kindergarten und auf die katholische Grundschule. Unsere Eltern sahen es gern, wenn mein Bruder und ich den Weihnachtsgottesdienst besuchten. „Das ist doch auch ein Gotteshaus“, sagten sie. Wir machten dann nur nicht das große Kreuzzeichen wie die Christen, sondern falteten die Hände zusammen und sagten leise „Amin“ – Türkisch für „Amen“. 

In Kalterherberg gehörten mein Bruder und ich zu den wenigen Kindern mit internationaler Biografie. Eines Tages lobte mein Klassenlehrer, wie gut mein Deutsch trotz meiner internationalen Biografie war. Wie stolz ich damals war! Heute würde ich vermutlich sagen: Ja, warum denn auch nicht? Ich bin doch hier geboren und aufgewachsen, das ist doch meine Muttersprache. 

Eine gute Schülerin war ich, mit Ausreißern nach oben genauso wie nach unten. Konnte sehr fleißig sein, mich in Themen hineinarbeiten. Kein Wunder, dass mein Vater schockiert war, als er das Empfehlungsschreiben nach der vierten Klasse in der Hand hielt. „Realschule?!“, rief er verblüfft. „Meine Tochter geht aufs Gymnasium!“ 

Richtig sauer war er. Er war überzeugt davon, dass hier eine große Fehleinschätzung meiner Fähigkeiten vorlag. Entgegen dem Empfehlungsschreiben ging ich also aufs Gymnasium, studierte, machte später den Bachelor in Anglistik und Romanistik und den Master in Kommunikation und Kulturkontakte in Düsseldorf mit einem Studienaufenthalt in den USA. 

Immer wieder haben mich Absagen und Kritik im ersten Schritt enttäuscht, danach aber ermutigt. Wie oft habe ich von anderen gehört, dass ich dieses oder jenes nicht schaffe würde. Wie oft hat mich das angespornt, mich noch mehr anzustrengen – und es dann letztlich auch zu schaffen. Ich wusste immer: Auch wenn mir etwas Schlimmes widerfahren sollte – meine Eltern würden mich unterstützen. Das verleiht unglaubliche Kraft und mündet in den Drang, schonungslos ehrlich und offen sein zu wollen. Diese Ehrlichkeit ist einer der Gründe, warum ich Journalistin geworden bin. Lange war ich unsicher, was ich werden sollte. Als Studentin begann ich, in PR-Agenturen zu arbeiten. Solange ich hinter dem jeweiligen Produkt stand, machte mir der Job Spaß. Doch dann kam der Tag, an dem ich die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für Kinderschuhe machen sollte – Kinderschuhe, die hässlicher nicht hätten sein können. Ich fühlte mich unwohl dabei, sie mit schönen Worten zu umgarnen, und kam mir vor wie eine Lügnerin. Ich begriff: Ich musste auf die andere Seite des Schreibtisches.

Ich wollte nicht vorgefertigte Botschaften weitergeben. Ich wollte recherchieren, mir mein eigenes Bild machen und das Publikum ehrlich informieren. Ich wollte Journalistin werden. Als mir das klar war, setzte ich alle Hebel in Gang, um diesen Beruf ausüben zu dürfen. Praktika, Kurse, freie Mitarbeit, schließlich ein Volontariat beim WDR. So wurde ich Journalistin. 

Wie gut, dass meine Eltern meinem Bruder und mir durch ihre Migration ein Leben in Deutschland ermöglicht haben. Dass ich dank ihnen den Job der Journalistin so ausleben kann, wie es sein sollte: frei und unabhängig. Auch dieses Glücks bin ich mir wohl bewusst, gerade mit Blick auf meine zweite Heimat, die Türkei. Dort, wo Meinungs- und Pressefreiheit von den Regierenden systematisch eingeschränkt werden. 

Meine Eltern haben mir Werte mitgegeben. Sie haben mir gezeigt, was es heißt, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu haben, Mut, Stärke, eine Vision. Herzlich, ehrlich, gastfreundlich zu sein. Ein großes Herz zu haben, für sich und andere einzustehen und für die Rechte zu kämpfen.

Mein Name ist Damla Hekimoğlu. Ich bin die Tochter von Filiz und Hüsnü Arsan Hekimoğlu. Von einem Ehepaar, dessen Nachnamen kaum jemand auf den ersten Blick richtig aussprechen kann. Doch dieser Nachname steht mittlerweile auf einem Schild in meiner Heimat und zeigt den Weg zur Praxis meines Vaters. Er steht in Artikeln von weltweit erfolgreichen Magazinen wie „Forbes“, in denen über meinen Bruder, den Computerspiele-Entwickler Onat Hekimoğlu, berichtet wird. Und er ist im Fernsehen zu sehen und zu hören, wenn ich auf Sendung bin und als Damla Hekimoğlu berichte. 
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