Sina Afra

„Die beiden Damen hatten gerade eine Wette auf mich abgeschlossen“

Sein Vater war Diplomat, aufgewachsen ist er unter Deutschen. Erst während des Studiums entdeckte er seine türkischen Wurzeln und gründete ein türkisch-europäisches Netzwerk. Heute investiert Sina Afra in Start-ups – und will Jüngeren Ansporn sein.

Sina Afra, geboren am 21. Oktober 1968 in Ankara, ist Unternehmer und hat 20 Tech-Unternehmen gegründet, von denen er zwölf verkauft hat. Er ist zudem Angel-Investor mit rund 40 Investments in Start-ups. Afra hat über 20 Auszeichnungen oder Ehrungen erhalten, unter anderem zählt er zu den „Top 100 most influential tech people in the World“ („Wired Magazine“) und zu den „Brightest Minds Alive“ („Forbes Magazine“). Er hat einen Abschluss als Diplom-Kaufmann der Universität Münster und die Harvard Business School besucht. Er war im Board von Endeavor und ist Vorsitzender der Entrepreneurship Foundation. Seine Leidenschaft gehört seiner Familie sowie dem E-Sport, in dem er als Präsident von Fenerbahçe Esports Verantwortung übernimmt.
Im Sommer 1976 kam mein Vater nach Hause und erzählte, dass er als Generalkonsul nach Essen gehe. Große Aufregung bei uns daheim. Ich, damals acht Jahre alt, schaute gleich in meinem Kinderatlas nach, wo Essen eigentlich lag. Und fand heraus: in Deutschland.

Als ich das wusste, hatte ich viele Fragen: Wann geht es los, wie sieht unser neues Haus aus, ist Deutsch eine schwere Sprache? Die ersten sechs Jahre meines Lebens hatten wir in den Niederlanden gewohnt, danach ging ich auf eine englischsprachige Schule in Ankara. Als Diplomatenkind war ich von klein auf darauf vorbereitet, zusammen mit meinen Eltern alle paar Jahre umziehen zu müssen. Was ich nicht ahnte: dass Deutschland nicht irgendeine Zwischenstation werden, sondern mein Leben prägen würde. 

Im August 1976 trafen wir in Essen ein. Ich wurde in die dritte Klasse der Meisenburg-Grundschule im Ortsteil Bredeney eingeschult – ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. 

Ich erinnere mich an den Tag, an dem mich meine Mutter zur ersten Besprechung mit der Schulleiterin mitnahm. Sie unterhielten sich auf Englisch, so konnte ich mithören. Die Direktorin legte meiner Mutter nahe, mich von der dritten in die zweite Klasse zurückzustufen. Denn: „Der Junge spricht doch kein Wort Deutsch.“ 

Meine Mutter war damit gar nicht einverstanden. Nein, ich solle auf keinen Fall zurückgestuft werden. Ihr Argument: Kinder unter neun Jahren lernten rasch die neue Sprache. Ich würde gewiss binnen sechs Monaten fließend Deutsch sprechen. 

So ging es hin und her, keine wollte nachgeben. Die Positionen waren verfahren. Meine Mutter, wild entschlossen, mich nicht zurückstufen zu lassen, schlug der Direktorin ein Arrangement vor: Sollte ich nicht in sechs Monaten fließend Deutsch sprechen, wäre sie mit meiner Zurückstufung einverstanden. Darauf schlug die Direktorin ein und mir war klar: Die beiden Damen hatten gerade eine Wette auf mich abgeschlossen. 

Zum Glück hatte meine Mutter recht. Nach sechs Monaten bescheinigte mir die Direktorin sehr gute Deutschkenntnisse, ich durfte in der dritten Klasse bleiben. Und diese wilde Wette ist meine erste Erinnerung an Deutschland. 

Eine zweite Geschichte, an die ich mich gern erinnere: 1976 konnte man in ganz Essen keine Auberginen kaufen. Also bat mein Vater einen Diplomatenkollegen, das Gemüse aus der Türkei mitzubringen. Als sie bei uns ankamen, freuten wir uns wie an Weihnachten und Ostern zusammen und meine Eltern organisierten bei uns im Garten eine Grillparty. Unser Nachbar war ein gewisser Herr Dr. Haferkamp, schon in Rente, aber noch recht rüstig. Er tauchte am Gartenzaun auf und beobachtete uns. Mein Vater, typisch türkische Gastfreundschaft, lud ihn sofort ein, doch herüberzukommen, aber Dr. Haferkamp schlug aus. Sein Interesse galt den Auberginen. 

Er fragte meinen Vater, warum er „verfaulte Gurken“ grille. Wir lachten. Dr. Haferkamp hatte keine andere Wahl, als herüberzukommen und zu probieren. Und siehe da, die verfaulten Gurken schmeckten köstlich. Bis heute muss ich jedes Mal beim Anblick einer Aubergine daran denken. 

Vier Jahre später: die nächste Versetzung. Mein Vater erklärte mir, wir würden bald zurückgehen nach Ankara. Ich fing gleich an zu weinen. Ich wollte Essen nicht verlassen – es war für mich der schönste Platz auf der Welt. Meine Freunde waren hier, ich konnte mit dem Fahrrad in die Schule fahren, ich kannte jede Ecke in Bredeney und Rüttenscheid. Aber es half nichts. 
Ich entdeckte, dass ich nicht nur einer deutschen, sondern auch einer türkischen Welt angehörte. Ich verstand, dass es in Deutschland ein Türkenbild gab, das mir bis dahin nicht bewusst gewesen war. Das beschäftigte mich sehr.
So verließen wir 1980 Essen, um nach Ankara zurückzukehren. Ich wurde auf der deutschen Botschaftsschule eingeschult und vergaß Essen langsam. Bis zu dem Tag zwei Jahre später, an dem mein Vater seine nächste Versetzung verkündete: Er würde als Generalkonsul nach Düsseldorf gehen. Jubel brach aus. Ich brauchte diesmal keinen Kinderatlas, ich wusste, wo Düsseldorf war – keine 30 Kilometer von Essen entfernt.

Auch meine Mutter freute sich, da wir viele Freunde in der Gegend hatten, die wir jetzt wiedersehen würden. So kam ich in die neunte Klasse des Clara-Schumann-Gymnasiums in Düsseldorf. Und als mein Vater 1986 wieder versetzt wurde, beschloss ich, allein in Deutschland zu bleiben. 

Ich war in der zwölften Klasse und hatte kein Interesse daran, meine Freunde aufzugeben, in ein Internat zu gehen oder meinen geliebten Tennisclub in Düsseldorf zu verlassen, den TC 50 im Rheinstadion. Meine Eltern akzeptierten diese Entscheidung und mieteten mir eine Wohnung in Düsseldorf an. 

So war ich der Einzige in meiner Stufe, der in der zwölften und dreizehnten Klasse allein wohnte. Es waren aufregende Jahre. Ich musste alles selbst erledigen und lernen, all die alltäglichen Probleme selbst zu lösen. Mein größtes Problem: das Geld. Meine Eltern hatten mir so viel hinterlegt, dass ich damit bis zum Abitur auskommen sollte. Nur leider hatte sich das Geld nach der Hälfte der Zeit pulverisiert; ich weiß bis heute nicht wie. Da ich mich nicht traute, meine Eltern nach mehr zu fragen, musste ich einen Job finden. Aber als was hätte ich arbeiten sollen? Und wann? Ich hatte doch so schon kaum Zeit neben dem Sport und dem Lernen. 

Ich gab den Gedanken bald wieder auf. Was macht ein junger Mensch, der knapp bei Kasse ist? Er schüttet der Oma sein Herz aus. Und – welch Glück! – sie hatte vollstes Verständnis. Und unterstützte mich diskret und zuverlässig bis zum Abitur. 

Während meines BWL-Studiums in Münster begann ich, mich für Politik zu interessieren. Bis dahin hatte ich kaum Kontakt zu Türken gehabt, abgesehen von den Bekannten oder Freunden meiner Eltern. Auf meinem Gymnasium, im Tennisclub? Begegnete ich ihnen kaum. 

Das änderte sich nun. Gleich im ersten Semester traf ich die ersten Türken, wir verbrachten viel Zeit miteinander. Ich entdeckte, dass ich nicht nur einer deutschen, sondern auch einer türkischen Welt angehörte. Ich selbst hatte mich stets als Weltbürger verstanden, als jemand, der überall zu Hause ist. Nun wurde mir klar, dass die Deutschen in mir stets „den Türken“ sahen, verstand, dass es in Deutschland ein Türkenbild gab, das mir bis dahin nicht bewusst gewesen war. Das beschäftigte mich sehr. 

Ich wollte etwas tun. Ich wollte, dass wir Türken uns vernetzen und austauschen und gemeinsam dafür sorgen, Vorurteile abzubauen. Und gründete zusammen mit meinen Freunden einen Verein, die European Association of Turkish Academics (EATA). Der englische Name war bewusst gewählt, um unseren internationalen Anspruch zu unterstreichen. Binnen zwei Jahren hatte der Verein über 800 Mitglieder in sechs Ländern und entwickelte eine geradezu magische Anziehungskraft für junge Türkinnen und Türken der zweiten Generation. 

Sie wollten sich mit Gleichgesinnten vernetzen, sie hatten die gleichen Fragen: Wer bin ich? Ein Türke? Eine Schwäbin? Ein Europäer? Und was folgt daraus? 

Der zweite Verein, den ich mitgründen durfte, war die Liberale Türkisch-Deutsche Vereinigung (LTD). Die Idee dahinter: Viele Türkinnen und Türken – gerade jene, die eingebürgert und stolze Besitzer eines deutschen Passes sind – fühlen sich liberalen Ideen verbunden. Wir fragten uns: Wie können Deutsche mit türkischen Wurzeln aktiv an der Politik mitwirken? Braucht die deutsche Politik überhaupt Menschen mit Migrationshintergrund? Wie ermutigen wir Migrantinnen dazu, mitzumachen? 

Unter der Führung von Arif Babür Ordu und Mehmet Gürcan Daimagüler begründeten wir in Bonn die LTD. Auch viele Deutsche waren unter den Gründungsmitgliedern, darunter Klaus Kinkel, Guido Westerwelle, Wolfgang Kubicki und viele weitere führende FDP-Politiker. 

Meine Studienjahre waren geprägt vom Engagement in diesen beiden Vereinen, der EATA und der LTD. Es war für mich eine Zeit der Selbstfindung. Und ohne es zu ahnen, habe ich in diesen Jahren die freundschaftliche Basis für ein Netzwerk gelegt. Es ist ein loses Netzwerk von sehr unterschiedlichen Menschen. Sie kommen aus allen Schichten, aus vielen Gegenden in der Türkei, wählen unterschiedliche Parteien und haben heute alle möglichen Berufe – vereint in der Überzeugung, die deutsche Einwanderungsgesellschaft mitgestalten zu wollen. 

Heute bin ich Unternehmer, manche sagen: Start-up-Entrepreneur. Ich habe 15 Jahre in einer Unternehmensberatung und danach bei führenden E-Commerce-Firmen gearbeitet. In beiden Jobs fühlte ich mich wohl, doch dann bin ich einem schwedischen Unternehmer begegnet, der mein Leben noch einmal auf den Kopf gestellt hat. 

Ich war fasziniert von seiner Persönlichkeit und seinen Ansichten, seiner Verantwortungsbereitschaft und seinem Mut, ganz neu in die Zukunft zu schauen. Freiheit statt Villa, Start-up statt Status – das war sein Motto, es hat auch mich inspiriert. Bislang habe ich an die 20 Unternehmen gegründet und in mehr als 40 Start-ups investiert. 

Mein Vater war Berufsdiplomat, meine Mutter Kunsthistorikerin. Das Unternehmertum wurde mir also nicht in die Wiege gelegt. Es bedurfte einer Inspiration – in meinem Fall durch den schwedischen Unternehmer –, um in diese neue Welt einzutauchen. Und jetzt ist es an mir, Jüngere anzuleiten und ihnen ein Vorbild zu sein. 

Ich habe die Hoffnung, dass wir in der Zukunft nicht mehr über Herkunft und Integration sprechen müssen, sondern uns wichtigeren Fragen widmen können. Klimawandel, Digitalisierung, Ungleichheit – das sind Themen, die uns bewegen sollten. Hoffentlich werden meine Kinder und ihre Generation eines Tages zurückschauen und sich wundern, warum „das andere“ so lange dämonisiert wurde. 

60 Jahre sind seit dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vergangen und ich durfte ein Teil dieser Reise sein. Nein, ich bin kein Gastarbeiterkind. Aber so vielfältig, wie die deutsche Gesellschaft ist, so vielfältig ist die Geschichte der Türkinnen und Türken in Deutschland.
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