Ali Lacin

„Ich habe beschlossen, dass ich mich nicht mehr behindere“

Er war ein Kind wie jedes andere, trotz seiner Beinprothesen. Doch in der Pubertät versackte er in einer Depression. Ali Lacin kämpfte sich nach oben, nach ganz oben – und startet 2021 bei den Paralympics in Tokio.

Ali Lacin, geboren am 17. April 1988 in Berlin, ist Großhandelskaufmann und beidseitig oberschenkelamputierter Para-Leichtathlet. Er begann seine Karriere Anfang 2012. Vier Jahre später bestritt er bei den Europameisterschaften im italienischen Grosseto seinen ersten Wettkampf auf europäischer Ebene. Bei der Para-Leichtathletik-Europameisterschaft 2018 in Berlin gewann er Silber über 200 Meter Sprint, im Jahr darauf holte er bei der Para-Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Dubai Bronze. In jenem Jahr entdeckte er auch den Weitsprung als Disziplin für sich. 2021 gehört Lacin zum Team von Deutschland Paralympics und hat sich für die Olympischen Spiele in Tokio in den Disziplinen Sprint und Weitsprung qualifiziert.
Am schönen 17. April des Jahres 1988 wurde ich geboren. Leider ohne Schienbeine.

Heute könnten die Ärzte sie wahrscheinlich rekonstruieren, damals war die beste Lösung, mir beide Beine zu amputieren. Denn Kniegelenke hatte ich auch nicht. Nur die Oberschenkel blieben dran. 

Als ich klein war, störte mich das nicht besonders. Ich bekam Prothesen, lernte auf ihnen laufen und war ein Kind wie jedes andere. Ich hantierte mit den anderen im Sandkasten, tobte mit ihnen im Hof und spielte mit ihnen Verstecken. Nur beim Fangen hatte ich keine Chance. 

Dafür fuhr ich das schickste Fahrrad der Siedlung, dreirädrig und groß, meine Harley-Davidson in Blau und Silber. Man schnallte mich an die Pedale und dann bin ich den ganzen Tag auf dem Innenhof damit herumgefahren. Hinten hatte es einen Korb, also konnten wir Taxi spielen: Ich setzte einen meiner Freunde rein und fuhr ihn hin und her. Von morgens bis abends waren wir allein draußen. 

Kinder können erbarmungslos sein. Manche machten sich einen Spaß daraus, mich zu ärgern, liefen weg und lachten mich aus, weil sie wussten, dass ich sie eh nicht einholen konnte. Noch schlimmer war es in der Schule. Einige Idioten meinten, es sei lustig, wenn sie mich von hinten oder von der Seite schubsten. Sofort lag ich auf dem Boden. Zum Glück waren meine Freunde nicht weit, allen voran Serhat, mit dem ich bis heute gut befreundet bin. Er und die anderen haben mich verteidigt, die Quälgeister in die Flucht geschlagen und mir aufgeholfen. 

Andere äfften mich nach, wie ich in der Schule die Treppe hochging. Heutige Beinprothesen stecken voller Elektronik und haben im Knie kleine Motoren. Die Prothesen damals waren davon Lichtjahre entfernt. Das Hauptproblem: Man konnte die Beugung der Kniegelenke nicht präzise kontrollieren. Vor allem beim Treppensteigen war das ein Problem. Ich musste die Treppe seitlich hochgehen, mit dem Gesicht zum Geländer, an dem ich mich mit beiden Händen festhielt, um dann langsam und mit durchgestreckten Knien eine Stufe nach der nächsten zu nehmen. Klar sah das bescheuert aus. Ich habe versucht, die Hänseleien zu verdrängen, aber natürlich blieb was hängen. So was vergisst du nicht. 

Warum ich diese „Behinderung“ habe? Das hat mir kein Arzt je sagen können. Alle in meiner Familie sind gesund, nur bei mir gibt es diesen Gendefekt. Ich muss da wohl irgendeinen Jackpot geknackt haben. 

Ich mag das Wort „Behinderung“ allerdings gar nicht. Niemand ist behindert. Höchstens behindert er sich selbst.

Ich habe beschlossen, dass ich mich nicht mehr behindere. Aktuell trainiere ich für die Paralympics in Tokio. Ich werde im Weitsprung und über 200 Meter starten und rechne mir Chancen aus, in beiden Disziplinen um die Goldmedaille zu kämpfen.  

Mein Großvater war Tischler und der Erste, der aus der Türkei nach Deutschland kam. Er holte seine Familie nach, darunter meinen damals 15-jährigen Vater. Der kellnerte in den ersten Jahren, später war er Kranführer bei ThyssenKrupp in Berlin. Als ich vier war, wurde der Standort Berlin dichtgemacht, die Familie zog um nach Duisburg, meine Mutter, meine beiden Brüder und ich. Dort kam unser Bruder Bilal zur Welt. 

Das waren schöne Jahre. Mit dem riesigen Fahrrad, den Kindern im Hinterhof, mit Serhat und den anderen Freunden. Als ich zwölf war, zogen wir zurück nach Berlin, zurück zur Familie und den Großeltern. Eigentlich freute ich mich darüber. Aber ich kam allmählich in die Pubertät und begann, alles zu hinterfragen. Mir ging es immer schlechter, und als ich in der neunten Klasse war, rutschte ich in eine lange Depression.  
2011, während der Ausbildung, rief mich ein Kumpel an: „Mach den Fernseher an, da trainieren Leute für die Paralympics!“ Ich hatte keine Ahnung, was das war, schaltete ein und sah zum ersten Mal in meinem Leben behinderte Leistungssportler. Ich sah beinamputierte Athletinnen und Athleten, Leute wie mich, die auf Federn irre schnell durch die Gegend rannten – und mir war gleich klar: Das will ich auch probieren.
Die anderen Jungs gingen aus, hatten bald ihre erste Freundin, aber ich war immer nur der Nette und blitzte ab. Ich wertschätzte mich nicht mehr, hatte keine Lust mehr auf gar nichts, stellte meine Prothesen in die Ecke und saß nur noch im Rollstuhl. Der Weg zur Schule war nicht weit, und das war meist der einzige Weg, den ich zurückgelegt habe.

Nach der Schule erst mal Mittagsschlaf, dann fernsehen und rumhängen und nach dem Abendessen möglichst früh wieder ins Bett. Und am Wochenende Xbox spielen. Ich hockte in meinem Zimmer, ging auf Distanz zu meinen Freunden, hatte schlechte Noten, nahm zu und habe bestimmt ein Jahr lang den Kopf in den Sand gesteckt. So sehr habe ich mich in diese Depri-Phase reingesteigert, dass ich am liebsten alles weggeschmissen hätte, weil ja alles sowieso keinen Sinn hatte. 

Was hat mich da wieder rausgeholt? 

Ich kann es bis heute nicht genau sagen. Es gab kein Erlebnis, keine Person, keine konkrete Begegnung. Nur mein Blick auf die Welt veränderte sich. Ich hörte auf, mich zu bemitleiden, und dachte: Eigentlich habe ich es doch ziemlich gut. Ich habe eine wunderbare Familie, werde von den Ärzten gut versorgt, bin ziemlich gesund. Ich habe mir eine rosarote Brille aufgesetzt – und plötzlich war die Welt tatsächlich wieder bunt. 

Aus dem notorischen Pessimisten wurde wieder ein Optimist. Will man es zusammenfassen, dann war es dieses eine kleine Zauberwort, das mich wieder auf die Beine brachte: danke. 

Ich fing an, mit Freunden Indoorsoccer zu spielen. Statt Prothesen trug ich Stumpfschützer, damit konnte ich Torhüter sein, meine Größe war optimal für die Hallentore. Ich hatte guten Bodenkontakt, das klappte super. Früher war ich beim Indoorsoccer immer als Letzter in eine Mannschaft gewählt worden, jetzt wurde ich oft als Erster gewählt, weil ich die Bälle so gut hielt, dass ich Spiele entscheiden konnte. Das hat mich extrem motiviert. 

Ich mottete den Rollstuhl ein, bekam gute Prothesen, schloss die Realschule ab und begann eine Lehre als Groß- und Einzelhandelskaufmann. Und gründete direkt danach gemeinsam mit meinem jüngeren Bruder ein Unternehmen – die Sweetstore Lacin GbR. Ein Großhandel für Kioskbetreiber, bei dem sie Schokoriegel, Chips und alle möglichen anderen Produkte abholen können. Eigentlich hatte ich studieren wollen, aber dann mochte ich es sehr, selbstständig zu sein und unsere kleine Firma voranzubringen. 

2011, während der Ausbildung, rief mich ein Kumpel an: „Mach den Fernseher an, da trainieren Leute für die Paralympics!“ Ich hatte keine Ahnung, was das war, schaltete ein und sah zum ersten Mal in meinem Leben behinderte Leistungssportler. Die Reportage zeigte, wie sich der deutsche Paralympics-Kader auf die Olympischen Spiele in London vorbereitete. Ich sah beinamputierte Athletinnen und Athleten, Leute wie mich, die auf Federn irre schnell durch die Gegend rannten – und mir war gleich klar: Das will ich auch probieren. 

Ich suchte mir einen Verein und fand den PSC Berlin, den Paralympischen Sport Club Berlin, einen der erfolgreichsten Sportvereine für Menschen in Deutschland. Im Januar 2012 besuchte ich ein Trainingslager und unterhielt mich lange mit den Trainern. Danach war mir klar: Ich will Sprinter werden. 

So machen es viele: Sie fordern ihr Handicap heraus. Wer keine Arme hat, wird Speerwerfer, wer keine Beine hat, Läufer. 

Ich begann mit dem Training, nahm ab, wurde fitter. Sportfedern sind teuer, mit Anpassung kommt rasch ein fünfstelliger Betrag zusammen. Das erste Jahr trainierte ich ohne. Dann bekam ich die ersten Sprintfedern von einer befreundeten Sportlerin geschenkt, begann zu trainieren – und bin übel gestürzt, nach nicht mal einem Monat. 

Die Federn waren zu weich für mich, ich setzte zu viel Kraft ein, eine bog sich zu weit zusammen, kam nicht mehr zurück, ich trat ins Leere und knallte auf die Schulter. Schlüsselbeinbruch, Operation, acht Monate Pause. 

Auf Federn zu sprinten ist eine Wissenschaft für sich. Es dauert Jahre, die Geschwindigkeit zu beherrschen. Die Kraft, die du einsetzt, bekommst du zurück, je schneller du wirst, desto perfekter musst du deine Technik kontrollieren. Die Koordination, das Gefühl dafür, wie die Federn arbeiten, ist das A und O. Vor allem darfst du den zweiten Schritt erst ansetzen, wenn sich die erste Feder vom Boden gelöst hat. Gehst du zu schnell in die nächste Bewegung, bleibst du am Boden hängen. Timing, Koordination, Körperhaltung, Spannung im Oberkörper, stabile Bauch- und Rückenmuskulatur, eine perfekte Armbewegung – du musst auf vieles achten. 

Wer mal sehen will, wie ich laufe, google nach „Ali Lacin Dubai“. 

Dort sieht man gut den Sichelschritt der Läufer in der Schadensklasse T61, also beinamputiert ohne Kniegelenke. Bei jenem WM-Lauf in Dubai 2019 bin ich Dritter geworden. Erster wurde Ntando Mahlangu aus Südafrika, ein außergewöhnlicher Athlet, bärenstark und technisch unter anderem deshalb so gut, weil er die Federn auch im Alltag trägt. 

Aber ich greife vor. 2014 bekam ich meine ersten eigenen Federn, gesponsert von Ottobock und meinem Orthopädietechniker, der nichts dafür haben wollte, dass er die Schäfte anpasste. Leider waren auch diese Federn am Ende nicht optimal, auch sie waren zu weich und eher fürs Laufen als fürs Sprinten gemacht. Aber das musste ich erst alles lernen, Schritt für Schritt. 

So oder so: Ende 2014 nahm ich an meinem ersten Wettkampf teil, den Nordostdeutschen Meisterschaften in Leipzig. Ich bin über 100 Meter gestartet und landete unter ferner liefen. Egal. Ein Anfang war gemacht. 

In den nächsten anderthalb Jahren trainierte ich hart. Ich hatte mir das Ziel gesetzt, zu den Paralympischen Spielen nach Rio zu fahren. Ich lief bei den Europameisterschaften in Grosseto, ich tat wirklich alles, um voranzukommen – und es reichte am Ende nicht. Ich war zu langsam, erfüllte die Qualifikationsnorm nicht, die Paralympischen Spiele 2016 mussten ohne mich stattfinden. 

Vor lauter Enttäuschung hätte ich meine Sportlerkarriere beinahe an den Nagel gehängt. Denn das war ja eine anstrengende Zeit: Ich führte zusammen mit meinem Bruder unseren Süßwarengroßhandel, trainierte mehrmals die Woche und war ständig unterwegs, in Trainingslagern und auf Wettkämpfen. 

Doch 2017 bekam ich einen Anruf vom Olympiastützpunkt Berlin: Die Paralympics-Europameisterschaft im Jahr darauf werde in Berlin stattfinden, ich solle unbedingt dabei sein. Ob ich nicht zurückkommen könne? Nach einigem Überlegen sagte ich Ja. Weil der Sport noch immer mein Traum war. Und weil man mir einen Halbtagsjob bei einer städtischen Berliner Wohnungsbaugesellschaft anbot. Ich gab meinen Anteil am Unternehmen an meinen jüngsten Bruder ab und hatte nun viel mehr Zeit, mich auf das Training zu konzentrieren. 

Ich haute mich voll rein, und tatsächlich: Ich lief meine persönliche Bestzeit über 200 Meter und wurde Vizeeuropameister in meiner Heimatstadt. All meine Freunde und Verwandten waren da, ich war total nervös – und unendlich glücklich, als mir die Silbermedaille umgehängt wurde. 

Die Saison im Jahr darauf war meine bislang intensivste. Das Training für die Para-Leichtathletik-WM in Dubai stand an, ich holte Bronze über 200 Meter und war damit für die Paralympischen Spiele in Tokio qualifiziert. Inzwischen machte ich auch Weitsprung, aktuell halte ich mit 6,29 Metern den Europarekord. Genau wie viele andere Athleten startete ich hoch motiviert ins Jahr 2020, bereit, meinen Medaillentraum zu verwirklichen – und wurde ausgebremst von der Coronapandemie. Die Spiele wurden um ein Jahr verschoben. 

Im April 2021 bin ich erneut gestürzt – und habe mir den Ellbogen gebrochen. Bei einer Trainingseinheit ist es passiert: Ich lief an, blieb mit den Spikes einer Feder hängen und wollte mich abrollen, so, wie ich es schon viele Male gemacht hatte. Es war ein simpler Sturz, ich hatte nicht einmal besonders viel Geschwindigkeit drauf. Aber beim Abrollen muss ich mir den Arm verdreht haben, der Ellbogen war durch, er wurde am Tag drauf operiert und mit zwei Schrauben wieder zusammengeflickt. 

Dieses Mal habe ich allerdings nur eine Woche mit dem Training ausgesetzt. Ich habe auf Sprint- und Weitsprungeinheiten verzichtet und ein Alternativtraining gestartet. 

Während ich dies schreibe, sind es noch zwei Monate bis zu den Olympischen Spielen. Ich habe einen neuen Trainer, er motiviert mich bis in die letzte Faser, gemeinsam trainieren wir zweimal am Tag. An diesem Morgen habe ich Kurvenstarts geübt für den 200-Meter-Lauf, heute Nachmittag werde ich an meiner Weitsprungtechnik feilen. 

Natürlich achte ich peinlich genau auf meine Ernährung. Süßigkeiten sind tabu, auch Brot habe ich von meinem Speiseplan gestrichen. Morgens gibt es Haferflocken mit Obst und Nüssen, mittags Salat mit Pute, abends oft eine Gemüsepfanne mit Steak. 

Im Alltag sieht heute niemand mehr, dass ich keine Beine habe. Man könnte denken, ich habe eine kleine Verletzung, weil ich nicht ganz rund gehe. Aber niemand würde auf die Idee kommen, dass ich doppelt amputiert bin. Das liegt daran, dass ich schon lange auf Prothesen gehe. Und dass die Prothesen so hervorragend sind. Ein Prozessor misst, wie stark du mit dem Oberschenkel Schwung holst, und rechnet automatisch die Schwungphase deines Beins aus. 

Sogar eine Treppenfunktion haben die Prothesen. Einmal kurz nach hinten kicken und gleich wieder nach vorn, dann hebt sich das Knie und man kommt halbwegs elegant die Stufen hinauf. Wobei, ganz ehrlich, lieber nehme ich den Fahrstuhl. 

Ich bin verheiratet und habe eine Tochter, und Freizeit habe ich eigentlich gar nicht. Ich trainiere hart, bin viel unterwegs, und wenn ich mal nichts zu tun habe, dann genieße ich das Zuhausesein. Und daheim laufe ich am liebsten ohne Prothesen herum, in Socken, auf den Oberschenkeln. 

Sport hat mich gerettet. Er ist nicht nur Bewegung. Sondern eine Haltung. Wenn ich renne, bin ich frei.
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