Tamer Ergün Yıkıcı

„Ich lebe zwischen zwei Welten, und das ist okay“

Eigentlich war er auf dem Sprung nach New York. Doch dann half er, Metropol FM zu gründen, den ersten deutsch-türkischen Radiosender. Der Erfolg war riesig. Auch weil Tamer Ergün eine Mission hat: mehr Chancen für mehr Menschen.

Tamer Ergün Yıkıcı, geboren am 22. Mai 1967 in Istanbul, ist Geschäftsführer von Metropol FM, dem bundesweit ersten deutsch- und türkischsprachigen Radiosender. Nach seinem Studium an der Fakultät für Bauingenieurwesen in Istanbul kam er 1992 nach Deutschland und studierte von 1996 bis 1998 Wirtschaftsingenieurwesen an der Technischen Universität Berlin. Seit der Konzeptionierung von Metropol FM hat er verschiedene Führungspositionen innerhalb des Unternehmens übernommen. 2007 wurde er Geschäftsführer. Er fördert kulturelle und soziale Projekte in Berlin und in anderen Regionen Deutschlands und setzt sich für den kulturellen, ökonomischen und medialen Austausch zwischen Deutschland und der Türkei ein. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter.
Am 7. Juni 1999 um elf Uhr ging Metropol FM auf Sendung. Wir hatten lange überlegt, mit welchem Lied wir starten sollten. Denn der erste Song, den eine neue Radiostation spielt, ist ein Symbol.

Wir entschieden uns für „Ich wünsche mir einen Engel“ von Rafet El Roman. Nicht nur, weil es damals ein Hit war und wir diesen Song mochten. Er passte einfach. Ein Engel war herabgeschwebt auf Berlin. Ein Traum hatte sich erfüllt. Durch den Äther wehte unsere Musik, unsere Sprache, unsere Kultur. 

Der Erfolg war unglaublich. Die Leute riefen uns an, schrieben uns Briefe, schütteten uns ihr Herz aus. Bis heute kann dir jeder Berliner Türke sagen, wann und wo er zum ersten Mal Metropol FM gehört hat. Menschen lieben es, im Auto mitzusingen, sie mögen Witze und Anspielungen, sie wollen gut gelaunt unterhalten und seriös informiert werden. 

Allein, die Welt der rund 200.000 Berlinerinnen und Berliner mit türkischen Wurzeln fand im Radio nicht statt. Manchmal gab es Spartensendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ausländische „Fenster“, aber sie berichteten über die Türkei und bildeten eine Welt ab, der wir längst entwachsen waren. 

Denn wir sind anders. Nach 60 Jahren passen wir in keine Schublade. In den Augen der Türken sind wir Deutsche, in den Augen der Deutschen sind wir Türken. In unseren Augen sind wir Berliner oder Hamburger oder Stuttgarter mit internationalen Wurzeln. Diese neue Identität haben wir auf unserem Sender gefeiert. Unsere Helden sind Fatih Akin, Mesut Özil, Aygül Özkan, Vural Öger und viele andere, sie verkörpern unsere Welt. 

Vor einigen Jahren habe ich meine Tochter in die Schule gebracht. Eine türkische Mutter sprach mich an, sie klang entrüstet: Warum wir das Projekt „Lernen macht stark“ nicht eher gestartet hätten? Über mehrere Monate hatten wir Ratschläge gegeben, wie Eltern die Neugier ihrer Kinder entfachen können. Wie sie ihre Lern- und Lesekompetenz steigern können, wie anregend der Besuch von Museen und Theatervorführungen sein kann und so weiter. „Lernen macht stark“ wurde zum Stadtgespräch. Einmal stand ein Kollege von mir am Flughafen und hörte, wie eine Gruppe türkischer Mütter über die Ratschläge diskutierte. 

Und nun beschwerte sich diese Frau. Was war los? 

„Ich verstehe nicht ganz“, sagte ich. 

„Bei meinem kleinen Sohn habe ich Ihre Tipps beherzigt“, sagte sie, „er ist top in der Schule, er liest Bücher, spricht gut Deutsch, hat deutsche Freunde. Mit ihm läuft es super.“ 

„Aber dann ist doch alles bestens“, wunderte ich mich.   

„Aber bei meinem älteren Sohn kannte ich die Tipps nicht! Da konnte ich all das nicht machen. Inzwischen ist er 16, jetzt ist es viel zu spät.“ 

Ja, nickte ich, das sei wirklich schade. 

Wir verabschiedeten uns. Die Begegnung war traurig und schön. Ich war stolz, dass unser Sender so viel Gutes bewirkt. Und ich war nachdenklich. Sie hatte recht: Was hätten wir erreichen können, hätten wir eher begonnen – gemeinsam Orientierung zu geben, Informationen auszutauschen, die Chancengleichheit zu erhöhen. 
Wenn ich in Deutschland bin, sehne ich mich nach der Türkei, nach der Sonne, dem Meer, dem Lachen, der Leichtigkeit. Wenn ich eine Weile dort bin, sehne ich mich nach Deutschland, nach Strukturen, Klarheit, festen Absprachen.
Die ersten acht Jahre meines Lebens lebte ich in Istanbul bei meinen Großeltern, danach war ich für sechs Jahre mit meinen Eltern in Duisburg. 1984 beschlossen sie, in die Türkei zurückzukehren, da war ich 14. Ich machte in Istanbul Abitur und studierte Bauingenieurwesen.

Besonders geprägt hat mich in jenen Jahren mein Großvater. Er war Unternehmer im Großmarkt und einer der Gründer und viele Jahre lang Vorsitzender der Istanbuler Obst- und Gemüsekommission und des Händlerverbandes. 

Ich besuchte ihn in seinem Büro oder begleitete ihn, wenn er Mitglieder des Verbandes besuchte, die allen möglichen Kulturen und Religionsgruppen angehörten. So lernte ich viel über das interkulturelle Leben im Istanbul der 70er- und 80er-Jahre. 

Für ihn war Glaube stets Privatsache. Er kritisierte öffentlich jene Unternehmer, die ihre Religiosität oder ihre ethnische Herkunft in den Vordergrund rückten. Bis heute erinnere ich mich an seine Ratschläge. „Egal, was jemand glaubt, alle Menschen sind gleich wichtig“, sagte er. Und: „Das größte Kapital eines Unternehmers ist das Vertrauen, das er in der Gesellschaft genießt.“ 

Ich war stolz auf ihn, weil er allseits beliebt war und man eine hohe Meinung von ihm hatten. Er prägte mich mit seiner Offenheit und seinem Geschäftssinn. Wenn ich heute Unternehmer bin, dann verdanke ich das seinem Vorbild. Er ermutigte mich, meinen Weg zu gehen, spornte mich an, etwas zu erreichen, Spuren zu hinterlassen, ein Unternehmen zu gründen, das zugleich dem Gemeinwohl dient. 

Nach dem Studium ging ich nach Berlin. Der Plan: Ich wollte ein zweijähriges Wirtschaftsaufbaustudium machen und dann weiter nach New York ziehen. Das war die Stadt meiner Träume. Zwei Freunde von mir lebten schon in Manhattan. Inzwischen waren beide erfolgreiche Unternehmer. 

Ich genoss die Zeit in Berlin, ging ins Theater, zu Lesungen, auf Konzerte, aber innerlich war ich auf dem Sprung und bereitete meinen Umzug vor. Da sprach mich eines Tages ein Freund an: Er habe gehört, dass ein Münchener Medienexperte einen türkischen Radiosender in Berlin gründen wolle – und Mitstreiter suche, um gemeinsam ein Konzept zu entwickeln. Ob mich das interessiere? 

Und ob mich das interessierte! Gemeinsam mit meinem Freund arbeitete ich zwei Jahre an der Konzeption des Senders. Beschloss, das Abenteuer New York zu verschieben und mich in das Abenteuer Metropol FM zu stürzen. Später stieg ein deutscher Gesellschafter ein, bald war klar, dass ich Geschäftsführer werde. 

Ein Abenteuer war es. Wir begannen bei null. Es gab keinerlei Strukturen, auf denen wir hätten aufbauen können. Keine ausgebildeten deutschtürkischen Moderatorinnen und Techniker, keine Marktforschung, keine Mediaagenturen, die Anzeigen für uns gebucht hätten. Alles mussten wir selbst erfinden, entdecken, aufbauen. Wir waren nicht die Ersten, die einen fremdsprachigen Radiosender in Deutschland gründen wollten, aber vor uns waren alle gescheitert, am falschen Konzept, an zu wenig Kapital. 

Uns war klar: Wir wollten auf die große Bühne, glasklares UKW. Und wir wollten die Welt der hier lebenden Migranten widerspiegeln, sie mit ihrer Musik berühren und ihre alltäglichen Probleme und Befindlichkeiten diskutieren. Mit diesem Konzept beantragten wir eine Lizenz bei der Medienanstalt Berlin-Brandenburg. Mit Erfolg. Und gingen auf Sendung an jenem 7. Juni 1999, an dem halb Kreuzberg, Wedding und Neukölln mitsangen: „Ich wünsche mir einen Engel.“ 

Uns wurde klar, wie riesig der Hunger nach Orientierung unter den Deutschtürkinnen und -türken war. Sie wollten sich besser auskennen, brauchten mehr Informationen, verständlich aufbereitet: über Schulen und Ämter, über Fortbildungen und Lehrstellen, über deutsche Politik und Berliner Kultur. Informationen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, bauen Brücken, verändern Perspektiven. 

Viele Projekte und Kampagnen starteten wir gemeinsam mit deutschen Partnern, mit der Robert Bosch Stiftung, der Stiftung Lesen, der Bundesagentur für Arbeit, der Deutschlandstiftung Integration, dem Konzerthaus, der Bundeszentrale für politische Bildung, um nur einige zu nennen. 

Wir organisierten Events: im Pergamonmuseum, in der Berliner Philharmonie, in der Komischen Oper und so weiter. Auch das öffnete Türen. Viele Deutschtürkinnen und -türken hatten diese Welten nie zuvor betreten, wir öffneten sie für unsere Community. 

Inzwischen hat Metropol FM Ableger in 16 Städten in Deutschland, auch hier sorgen wir für Orientierung und Vernetzung. Zuletzt haben wir eine Internetseite aufgebaut, die über Corona informiert, über Hygienevorschriften, Tests und Impfungen – Informationen, die Hunderttausende erreicht haben. 

Offiziell bin ich bis heute Geschäftsführer des Radios. Klar, die Zahlen müssen stimmen. Aber in meinem Herzen bin ich ein Vermittler. Ich liebe es, Informationen und Wissen zu teilen, die Kooperationen mit unseren deutschen Partnern liegen mir am Herzen. Wir haben hohe Reichweiten, wir verdienen Geld – und zugleich identifiziert sich unsere Community mit uns. Unser Sender hat den Deutschtürken ein Stück Heimat in Deutschland gegeben. Nein, anders: Dank Metropol FM fühlen wir Deutschtürken uns noch heimischer in Deutschland. 

Ich lebe zwischen zwei Welten, und das ist okay. Wenn ich in Deutschland bin, sehne ich mich nach der Türkei, nach der Sonne, dem Meer, dem Lachen, der Leichtigkeit. Wenn ich eine Weile dort bin, sehne ich mich nach Deutschland, nach Strukturen, Klarheit, festen Absprachen. Nach der deutschen Ordnung, die unglaublich nerven kann und die man vermisst, sobald sie fort ist. 

Ich reise für mein Leben gern. Ich bin neugierig auf andere Länder, begeistere mich für den Alltag in der Fremde. Was essen, was trinken, was hören die Menschen? Viele europäische Länder habe ich zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter besucht. Hoffentlich fliegen wir bald nach Japan. 

Das Abenteuer New York muss weiter warten. Manchmal besuche ich meine Freunde dort – und jedes Mal wird mir klar, dass ich mich richtig entschieden habe. Ich bin sehr glücklich hier. Ja, ich bin ein Berliner. 
Zurück