Defne Şahin

„In New York fiel mir auf, wie sehr ich in Berlin in Schubladen gedacht hatte“

Als Kind nahm sie sich eine Haarbürste als Mikrofon, stand damit vor dem Spiegel und probte Songs von Whitney Houston. Später studierte Defne Şahin Jazzgesang, bald trat sie mit ihren Kompositionen auf Bühnen in aller Welt auf, schwebend zwischen vielen Kulturen.

Defne Şahin ist eine deutsch-türkische Jazzsängerin und Komponistin. Sie hat eine musikalische Sprache entwickelt, die ihr Leben in verschiedenen Kulturen und Ländern widerspiegelt. 1984 in Berlin geboren und dort aufgewachsen, lebte sie in New York, Istanbul, Barcelona und Salvador da Bahia. Ihre Auftritte führten sie in Jazzclubs und Konzerthäuser wie die Carnegie Hall in New York, zu Jazzfestivals in Südafrika, nach Laos, Israel und in die Türkei. Sie wurde mit dem Jazzstipendium des Berliner Senats, als Teilnehmerin des Popcamps des Deutschen Musikrats und als Elsa-Neumann-Stipendiatin ausgezeichnet und war mehrere Monate lang Artist in Residence in der Kulturakademie Tarabya. Şahin lebt in Berlin, wo sie als Dozentin für Jazzgesang an der Universität der Künste lehrt.
Als ich elf Jahre alt war, zogen wir um nach Berlin-Wilmersdorf. Nun ging ich dort aufs Gymnasium. Was für ein Kontrast! Während meiner Grundschulzeit in Kreuzberg war ich umgeben von Kindern mit Migrationshintergrund und eine von vielen gewesen. Nun gehörte ich zu einer Minderheit und wurde mit Auszeichnungen bedacht wie: „Du sprichst aber gut Deutsch“, oder: „Du bist ja ganz anders als die Türken, die ich sonst kenne.“

Auch ignorante Fragen kamen vor: warum ich kein Kopftuch trage oder ob mir meine großen Brüder nicht das Ausgehen verbieten würden. Klischees über Klischees musste ich mir anhören. Und war dennoch heimlich froh, dass man mich als einen Ausnahmefall betrachtete. 

Heute schäme ich mich dafür. Ich ärgere mich, damals nicht die passenden Worte parat gehabt zu haben, um mich stellvertretend für alle Migrant:innen zu verteidigen. Wie gern hätte ich den Leuten ohne Umschweife erklärt, wie verletzend es ist, sich permanent erklären zu müssen. Aber diese Worte fehlten mir damals. 

Heute ertrage ich es nicht, exotisiert zu werden. Ich bin eine Berlinerin, die sich zu Hause fühlen möchte, ohne sich täglich für ihre Existenz rechtfertigen zu müssen. 

Ich singe, seit ich denken kann. Schon als Kind träumte ich davon, Sängerin zu werden. Stundenlang probte ich vor dem Spiegel und sang in eine Haarbürste, mein imaginäres Mikrofon. Songs von Whitney Houston, Lauryn Hill und Sezen Aksu – kraftvolle Frauenstimmen, die mich schon damals in ihren Bann schlugen. 
Während meiner Grundschulzeit in Kreuzberg war ich umgeben von Kindern mit Migrationshintergrund und eine von vielen gewesen. Nun gehörte ich zu einer Minderheit und wurde mit Auszeichnungen bedacht wie: „Du sprichst aber gut Deutsch“, oder: „Du bist ja ganz anders als die Türken, die ich sonst kenne.“
Meine Großeltern waren 1971 nach Deutschland gekommen. Einige Jahre lang schufteten sie unter großen Entbehrungen in Firmen, ehe sie eine kleine Bäckerei in der Friesenstraße in Berlin-Kreuzberg eröffneten. Ich sehe sie genau vor mir, diese Bäckerei. Erinnere mich, wie meine Oma Baklava machte und ich probieren durfte. Und ahnte nicht, wie sehr sie sich hatten anstrengen müssen, um sich selbstständig machen zu können.

Meine Eltern waren Lehrer:innen an Neuköllner Schulen. Dort wuchs ich auf. Mit drei Jahren fing ich an, Ballett zu tanzen, und ging zur musikalischen Früherziehung. Ich lernte, Klavier zu spielen, und sang in Chören. Musik und Theater standen ganz selbstverständlich auf dem Stundenplan, und mit jedem Auftritt wuchs meine Leidenschaft für Gesang. Die Schule vermittelte uns, dass wir Menschen einer Welt sind. Ich lernte mit großer Selbstverständlichkeit, dass ich eine Berlinerin mit türkischer Herkunft und einem griechischen Namen bin und dass mich diese Herkunft zu einem Mosaikstein der Gemeinschaft macht, in der ich lebe. Ich lernte, offen und neugierig auf andere Menschen zuzugehen, ganz gleich welcher Herkunft. 

Mit 14 bekam ich Gesangsunterricht und hatte meine ersten größeren Auftritte. Mit 16 Jahren ging ich für ein Jahr als Austauschschülerin in die USA, nach Philadelphia, und kam als Sängerin der Big Band meiner Highschool mit Jazz in Berührung. Die Musik schlug mich gleich in ihren Bann, ich war begeistert, wie natürlich meine Mitmusiker:innen diese bewegte und bewegende Musik interpretierten. 

Zurück in Berlin, wusste ich, dass ich Jazz studieren musste, und bereitete mich darauf vor, einen der begehrten Plätze für Jazzgesang an den deutschen Hochschulen zu bekommen. Welche Freude: Ich wurde an vier der fünf Hochschulen angenommen und entschied mich für ein Studium an der Universität der Künste, später unterstützt von einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung. 

Als einzige türkischstämmige Studentin wurde ich in der Aufnahmeprüfung gefragt, ob ich spontan etwas auf Türkisch singen könne. In einer Aufnahmeprüfung für eine Jazzhochschule gibt man sich so spontan und aufgeschlossen wie möglich – ich sang tatsächlich ein paar Takte auf Türkisch. Auch darüber ärgere ich mich im Nachhinein. Heute würde ich nur noch den Kopf schütteln. 

Zugleich haben mir meine Wurzeln geholfen, meinen musikalischen Horizont zu erweitern. Bewegte ich mich vorher stilistisch im amerikanischen Jazz und brasilianischen Bossa nova, fing ich nun an, traditionelle türkische Musik mit Jazzelementen zu fusionieren, und entdeckte ganz neue Ausdrucksformen. 

Für meine erste Komposition vertonte ich ein Gedicht von Nâzım Hikmet, dem berühmten türkischen Dichter: 

Lasst uns die Erde den Kindern übergeben, 
wenigstens für einen Tag 
wie einen bunt geschmückten Luftballon 
zum Spielen, zum Spielen, 
Lieder singend zwischen den Sternen. 
Lasst uns die Erde den Kindern übergeben, 
wie einen riesigen Apfel, wie ein warmes Brot, 
wenigstens für einen Tag sollen sie satt werden. 
Lasst uns die Erde den Kindern übergeben, 
wenn auch nur für einen Tag soll die Welt die 
Freundschaft kennenlernen. 
Die Kinder werden uns die Erde wegnehmen, 
werden unsterbliche Bäume pflanzen.

Dieses Gedicht hatte mich seit meiner Kindheit fasziniert. Nun legte ich tiefe und spielerische Melodien darauf, offene und modale Harmonien und eine Rhythmik, die einem meditativen Drum-’n’-Bass-Groove ähnelt. Ich betrat eine Klangwelt, in der ich noch so viel entdecken würde – und machte mich daran, weitere Hikmet-Gedichte zu vertonen. Ich identifizierte mich mit seiner Naturverbundenheit, seinem Streben nach Freiheit, der Sehnsucht in seinen Gedichten. 

Zeitweise kam mir die Kompositionsphase wie eine Kollaboration mit Nâzım Hikmet vor. Wenn man komponiert, ist man so viele Stunden alleine mit seinem Instrument. Aber ich konnte die Worte Hikmets hören und seine Gedanken nachempfinden, so, als hätten wir zusammen am Klavier gesessen und die Musik kreiert. 

Ein Großteil der Stücke ist während meines Erasmus-Aufenthaltes in Barcelona entstanden. Dort war ich umgeben vom Meer und von den Bergen und konnte mich sehr gut auf die Naturbeschreibungen Hikmets einlassen. Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.

So entstanden viele der Kompositionen meines Debütalbums „Yaşamak – to live with the words of Nâzım Hikmet“. Es erschien 2011 in der Reihe „Jazz thing Next Generation“, die Debütalben deutscher Jazzmusiker:innen präsentiert, und zugleich bei der Plattenfirma Kalan Müzik in der Türkei, die viele legendäre Aufnahmen türkischer Musiker veröffentlicht hat. Mir lag viel daran, dass das Album auch in der Türkei erscheint. 

Mit dem Album war ich schlagartig bekannt, tourte mit meiner Band deutschlandweit auf Konzertreisen und auf Einladung des Goethe-Instituts auch in der Türkei. Ein Jahr lang pendelte ich zwischen Istanbul und Berlin und merkte allmählich, dass ich hungrig war, noch tiefer in die Jazzmusik einzutauchen und dorthin zu gehen, wo ein Großteil der Jazzgeschichte geschrieben wurde: nach New York. 

2012 zog ich nach Harlem, um an der Manhattan School of Music meinen Master zu absolvieren. Dort traf ich auf meine Idole Theo Bleckmann und Gretchen Parlato, die wichtige Mentor:innen für mich wurden. Es fühlte sich wahnsinnig aufregend und absolut richtig an, mir ein neues Zuhause am Big Apple aufzubauen. Die Musikszene war unglaublich vielfältig und inspirierend, die Stadt war groß genug, um jeden Tag etwas Neues zu entdecken, die Menschen waren sehr aufgeschlossen und herzlich. 

Dieses Ambiente hat mich künstlerisch inspiriert und führte zu meinem zweiten Album „Unravel“, 2016 beim Label Fresh Sound New Talent in Spanien erschienen. Dieses Mal vertonte ich Gedichte von William Shakespeare und Emily Dickinson und sang auch Texte von mir. Das Album entstand in den Sear-Sound-Studios in Manhattan, wo legendäre Jazzplatten aufgenommen werden. Schnell lernte ich viele namhafte Jazzmusiker:innen kennen und spielte auf großen Bühnen wie der Carnegie Hall und in vielen Jazzclubs. 

Eine echte „New York Lesson“ war für mich: zu bemerken, wie sehr ich in Deutschland in Schubladen gedacht hatte. Bei meinen ersten Begegnungen wollte ich immer gleich wissen, woher mein Gegenüber kam. Bis mir auffiel, dass es unüblich ist, diese Frage in New York sofort nach der Vorstellung zu stellen. Vielleicht fragt ein New Yorker auch nie danach, denn es gibt genug andere Themen, ein nettes Gespräch zu füllen und miteinander in Kontakt zu treten. In den ersten Wochen brannte mir diese Frage noch unter den Fingernägeln. Bis ich sie aus meinem Small-Talk-Katalog strich. 

Drei Jahre später ging ich in die Türkei, sechs Monate lang war ich Artist in Residence in der Kulturakademie Tarabya. Tarabya ist ein gehobener Außenbezirk Istanbuls, die Künstlerresidenz liegt am Bosporus auf der europäischen Seite auf einem riesigen Gelände mit einem schönen Garten und einem kleinen Wald. Ich kannte Istanbul – und lernte es noch einmal neu kennen. Die Stadt hatte sich nach den Gezi-Protesten verändert, es herrschte eine beklemmende Stimmung. Ich war froh, ein bisschen weiter außerhalb des Geschehens zu sein und Tag und Nacht am Flügel singen und komponieren zu können. 

Ich probte dort mit meinem Pianisten Guy Mintus. Wir kannten uns aus New York, inzwischen lebt er wieder in Israel. Gemeinsam gründeten wir das Aşık Duo und interpretierten türkische Volkslieder der Aşık. Diese anatolischen Troubadours sangen ihre Lieder mit der Bağlama, aber wir übertrugen sie auf unsere Instrumente: die Stimme und das Klavier. Zum Abschluss dieser Arbeitsphase traten wir im Pera-Museum auf. Inzwischen tourten wir auch durch Israel und hatten zahlreiche Auftritte in New York und Berlin. 

Zurzeit lebe ich wieder in Berlin und komponiere für meine Band. Gemeinsam treten wir auf Bühnen auf, auf Festivals, im Fernsehen. Seit vier Jahren bin ich Dozentin für Jazzgesang an der Universität der Künste und an einer Musikschule in Schöneberg. Ich liebe es, meine Erfahrung an meine Student:innen weiterzugeben, in aller Welt. Und leidenschaftlich gern arbeitete ich als Beraterin im Lots:innen-Programm für ankommende Künstler:innen in Berlin. 

So nervenaufreibend es auch sein kann, als freiberufliche Musikerin zu arbeiten, bin ich dankbar, die Musik als eine Konstante in meinem Leben zu haben. Und ich bin dankbar für all die Reisen und Konzerte und Menschen, die mein Leben bunt schillern lassen. 
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