Mustafa Akça

„Manchmal endeten die Fußballspiele in handfesten Prügeleien“

Klempner, Schauspieler, Quartiersmanager: Mustafa Akça war vieles. Und fand seine Berufung darin, Hochkultur für alle zu öffnen. Etwa mit dem Operndolmuş, dem Sammeltaxi der Komischen Oper, das Sängerinnen und Sänger zu Auftritten in Berliner Hinterhöfe bringt.

Mustafa Akça, geboren am 7. August 1973 in Berlin, ist Handwerker, Schauspieler und Moderator. Von 2004 bis 2011 war er Quartiersmanager für interkulturelle und generationenübergreifende Projekte in Berlin. Seit 2011 konzipiert er als Leiter von „Selam Opera!“ innovative Formate und Konzepte an der Komischen Oper Berlin, um Menschen für Musiktheater und Oper zu begeistern. Er war interkultureller Coach zur Beratung von Kultureinrichtungen und gemeinnützigen Organisationen, Beiratsvorsitzender der Bundesakademie für Kulturelle Bildung und Experte im Rat für Kulturelle Bildung. 2017 hat Akça mit „Selam Opera!“ den BKM-Preis Kulturelle Bildung gewonnen.
Eines Tages kam meine Großmutter strahlend von der Arbeit nach Hause und erzählte, dass ihr Vorgesetzter Türkisch spreche. Als wir Kinder und Enkelkinder fragten, was er denn könne, sagte sie: „Çabuk çabuk!“ – „Schnell, schnell!“ Die Aufforderung, sie solle zügiger arbeiten, war allerdings alles, was er konnte. So wenig brauchte es damals als „Willkommensgeste“, um die Einwanderer aus Anatolien zu begeistern.

Meine Großmutter war die Erste aus unserer Familie, die nach Berlin kam. Als junge Frau fing sie 1969 an, in einer Wurstfabrik zu arbeiten. Ohne Sprachkenntnisse, ohne nähere geografische Vorstellung kam sie nur mit dem Nötigsten aus einem Dorf namens Aşağıtekke in Zentralanatolien. Anfangs ließ sie ihren Mann mit den Kindern zurück und war auf sich allein gestellt. Ich frage mich heute, wie viel Mut oder Verzweiflung man braucht, um einen solchen Schritt zu wagen. 

Später kam ihr Mann mit den fünf Söhnen nach, und sie zogen in einen dieser typischen heruntergekommenen Altbauten in Berlin-Kreuzberg mit Klo auf halber Treppe. Einer der Söhne war mein Vater. 

Ich wurde in Berlin-Kreuzberg geboren und fühle mich bis heute als ein typischer Junge dieses Kiezes. Dort war damals ein türkisch-deutsches Leben unter Nachbarn mit viel Wildwuchs, aber ohne große Reibungen möglich.. 

Wir waren eine internationale Truppe, die durch die Hinterhöfe in der Nähe des Viktoriaparks tobte. Steffen, Peer, Oliver, Jan und Damir hießen meine Freunde, und auch ihre Eltern haben mich geprägt, ja behandelten mich, als sei ich ein Teil ihrer Familien. Noch heute bin ich an Heiligabend manchmal bei Oliver und seiner Mutter zu Gast, und nie werde ich es Carola vergessen, der Mutter meines Freundes Oliver, dass sie zu uns nach Hause kam und mit Händen und Füßen meinen Eltern erklärte, wie eine Klassenfahrt abläuft oder auf welche Schule ich gehen sollte. 

Meine Klassenkameraden waren öfter bei uns als ich bei ihnen. Sie liebten das Börek meiner Mutter, die fein ausgerollten Blätterteigschichten, gefüllt mit Käse, Spinat, Hackfleisch. So vernarrt waren sie darin, dass sie mir so manches Mal mein Pausenbrot wegschnappten, mein Pausen-Börek, und weil ich ihr Schinkenbrot nicht mochte, ging ich leer aus. 

Ich hatte als Kind und Jugendlicher in Kreuzberg immer die Gewissheit, behütet und geschützt zu sein. Nicht zuletzt wegen meiner Lehrerinnen, die mir nie das Gefühl gaben, ich könne etwas nicht erreichen. Egal, mit welchen Zukunftsvorstellungen und Ideen ich auch ankam, immer unterstützten sie mich und gaben mir den nötigen Wind unter die Flügel. 

Erfinder wollte ich werden – mein Physiklehrer fand, das sei eine prima Idee. Bücher wollte ich schreiben – meine Deutschlehrerin Frau Schrickel ermutigte mich, mir Geschichten auszudenken und sie in einem Schulheft aufzuschreiben, märchenhafte Storys, in denen kleine Jungen die Hauptrolle spielen. Fußballer wollte ich werden, Theater spielen, interessierte mich für Geschichte, und immer wurde ich ernst genommen, egal, was ich vorhatte. Kein Augenrollen, kein: „Lass es doch!“ 

Gleichzeitig behandelten sie mich nie mit falscher Nachsicht. Wenn ich etwas vermasselt oder ausgefressen hatte und den „Migrantenbonus“ ziehen wollte, wurde mir schnell eine klare Linie gezeigt. Ich schrieb eine Fünf im Diktat und wollte mich damit rausreden, dass bei uns daheim ja kein Deutsch gesprochen werde. „Nein“, bekam ich zu hören, „du bist hier geboren, du lernst das Gleiche wie die anderen, übernimm Verantwortung!“ Oder wenn mein Temperament mit mir beim Fußball durchging und ich es mit meinem südländischen Blut rechtfertigte – schüttelte mein Sportlehrer den Kopf: „Nein, Freundchen, das ist dein Problem.“ 

Ganz anders Herr Knuth. Er war streng und kompromisslos. In einem fort ermahnte er uns. „Mustafa, hör auf zu kippeln!“ „Serdar, hör auf, Cola zu trinken!“ Aber wenn uns jemand auf Wandertagen blöd kam und Sprüche über uns „Türkenkinder“ machte, warf er sich mit Leib und Seele dazwischen und verteidigte uns. Wir mochten ihn sehr, trotz seiner Strenge. 

Ich hatte das Glück, dass meine Eltern volles Vertrauen in die Schule ihrer Kinder hatten und alles unterstützten, was wir dort an Entwicklungsmöglichkeiten geboten bekamen, um in der deutschen Gesellschaft Fuß zu fassen. 

Es war der Vater meines Freundes Christian, der mich zum Fußballspielen in einen Verein mitnahm. Von da an sah man mich regelmäßig beim Training bei Blau-Weiß 90 Berlin, und das Leben in dieser Fußballwelt hat mich geprägt. Es herrschte ein toller Teamgeist, und die Mitglieder unserer Mannschaft verbanden intensive Erlebnisse. Die Herrenmannschaft spielte damals in der 1. Bundesliga, und wir durften als Balljungen unseren Fußballidolen die Bälle zuwerfen. Es war unglaublich aufregend, im Berliner Olympiastadion den Ball direkt in die Hände von Rudi Völler zu werfen.  
Das Lebensgefühl des Provisorischen beeinflusste meine Berufswahl. Wenn man bei jeder Gelegenheit hört, dass man mit dem gewählten Beruf auch in der „Heimat“ etwas anfangen können muss, kann es passieren, dass man Klempner wird.
Die Trainer und Betreuer behandelten uns Jungen alle gleich. Es gab keine Deutschen, Jugos, Italiener oder Türken. Wir waren Spieler einer Mannschaft und entsprechend unseren Fähigkeiten und unserer Leistung aufgestellt. Wobei, bei Auswärtsspielen war es anders. Wenn wir gegen Mannschaften im Berliner Osten spielten, die wenig Vielfalt in ihren Teams kannten, war die Stimmung schon mal angeheizt. Und manchmal endete das in handfesten Prügeleien.

Sie wussten genau, wie sie uns provozieren mussten. „Ihr blöden Kanaken“, riefen sie uns zu, schon stieg der Pegel auf dem Platz, und es gab die ersten bösen Fouls und roten Karten. Ich kann Ungerechtigkeiten schlecht ertragen, ich sprang als Letzter an, aber war der Erste, der dann richtig explodierte. Die Eltern am Spielfeldrand beschimpften einander, der Schiri pfiff, Rangelei, das Spiel wurde abgebrochen. Oft ging es erst richtig los nach dem Abpfiff, sie warteten auf uns, wenn wir aus der Umkleide kamen, oder wir auf sie, und dann gab es aufs Maul, verstauchte Knöchel, geplatzte Lippen, gebrochene Nasen. Und natürlich war allen klar, wie es beim Rückspiel aussehen würde. Wir hielten zusammen, ganz gleich, woher wir kamen. 

Ja, das war abenteuerlich. Das schult fürs Leben. Und war nichts im Vergleich zu den Grobheiten, die einem vonseiten der Politik und aus den Medien entgegenschallten. Als junger Erwachsener wurde mir bewusst, dass man uns, die hier über Jahre Wurzeln schlugen, permanent das Gefühl gab, nur auf Zeit geduldet zu sein. 

Ich erinnere mich genau an den Brandanschlag im Mai 1993 auf eine türkischstämmige Familie in Solingen, bei dem zwei junge Frauen und drei Mädchen ums Leben kamen. Darauf folgten Anschläge in Rostock, Mölln, Hoyerswerda und die NSU-Morde. Auch in neuester Zeit reißt mit Halle und Hanau die Reihe von ausländerfeindlichen Attacken nicht ab. Der Anschlag in Solingen ist jedenfalls in seiner Signalwirkung nach wie vor bei mir präsent. Er hat mich zum Nachdenken gebracht und skeptisch werden lassen. 

Ich konnte noch so wohlbehütet aufwachsen, meinen Lehrerinnen und Lehrern vertrauen und erleben, wie sie auf Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für meine Rechte und die meiner Eltern kämpften. Dennoch blieb und bleibt unter der ersten Generation der Gastarbeiter das verunsichernde Gefühl, nicht willkommen zu sein. Bewusst oder unbewusst wird dieser Eindruck an die folgenden Generationen weitergegeben und prägt, wie ich auch an mir wahrnehmen kann, ihr Lebensgefühl. 

Dieses Lebensgefühl des Provisorischen beeinflusste zunächst auch meine Berufswahl. Ich wurde zwar von meinen Eltern zu nichts gezwungen. Wenn man jedoch bei jeder Gelegenheit hört, dass man mit dem gewählten Beruf auch in der „Heimat“ etwas anfangen können muss, kann es passieren, als Azubi bei den Klempnern und Gas-Wasser-Installateuren zu landen. Das bedeutet, sommers wie winters morgens um sieben Uhr auf der Baustelle zu sein, abends einen rußigen Heizkessel zu säubern, Dachrinnen in schwindelerregender Höhe zu löten, Fliesen zu schleppen und zu legen, Rohre zu installieren, zu schweißen, Abflüsse zu reinigen und Verstopfungen zu beseitigen. 

Als Lohn winkten nach drei Jahren neben dem Gesellenbrief Demut und Respekt vor dem Handwerk und die Fähigkeit, für den Rest meines Lebens alle meine sanitären Probleme selbst regeln zu können. Außerdem gewann ich prägende Lebenserfahrungen in einem sehr bodenständigen deutschen Milieu. Zum Abschied sagte mir mein Meister, egal, was auf der Welt passiere und in welcher Krise die Menschheit auch stecke: „Aufs Klo müssen alle!“ 

Im Anschluss an meine Ausbildung begann ich zunächst zu studieren. Mit dem Gedanken im Hinterkopf, eines Tages zurück nach Anatolien gehen zu müssen, entschied sich meine türkische Stimme für Energie- und Versorgungstechnik. Außerdem rieten mir meine Eltern und Verwandten, für den Fall der Rückkehr meinen türkischen Pass zu behalten. Obwohl es für mich, der ich in Berlin geboren wurde und immer in Ausbildung oder Arbeit war, kein Problem gewesen wäre, die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen, behielt ich tatsächlich meinen türkischen Pass. Ironischerweise bin ich heute damit allein in meiner Familie, alle anderen sind inzwischen eingebürgerte Deutsche. 

Nach einer Weile merkte ich, dass mir das Ingenieurstudium nicht lag. Und ich beschloss, eine Ausbildung zum Schauspieler zu machen. 

Kurz danach wollte es der Zufall, dass mich die Managerin einer Reederei fragte, ob ich nicht auf einem Kreuzfahrtschiff als Entertainer arbeiten wolle. Jung und abenteuerlustig, wie ich war, heuerte ich auf der Aida an und war einige Jahre auf den Weltmeeren unterwegs. Ich entertainte die Urlauber und sah nebenbei Häfen in allen möglichen Teilen der Erde. Wenn ich meine Kabine verließ, ging sofort der Job los. Das war hart, aber ich lernte viel. Vor allem kam es darauf an, sich flexibel auf Menschen und neue Situationen und Gegebenheiten einzustellen. 

Obwohl ich das Meer lieber vom Strand aus betrachtete, schipperte ich für viele Monate darauf herum. Von Menschen aus Anatolien abstammend, lag mir das Schwimmenlernen in meiner Kindheit und Jugend nicht am Herzen. Und so kam es, dass ich zwar einer Seetauglichkeitsprüfung unterzogen wurde, niemand jedoch nach meinen ganz und gar kümmerlichen Schwimmkenntnissen fragte. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen machte ich den Job gerne, aber nach einiger Zeit kam das Heimweh. Mir fehlten Berlin, die Berlinerinnen und Berliner, die Freunde und die Familie. 

Nach meiner Zeit auf dem Schiff arbeitete ich zum Teil als Warm-Upper und stand für verschiedene Fernsehformate auf der Bühne. Nebenher konzipierte ich Stadtführungen und heuerte schließlich bei S.T.E.R.N an, einer Gesellschaft für behutsame Stadterneuerung. Ich wurde Teil des Quartiersmanagements für die Gropiusstadt, ein Hochhausviertel in Neukölln. 

Heinz Buschkowsky, damals Bürgermeister Neuköllns, ließ es sich nicht nehmen, bei den Bewerbungsgesprächen dabei zu sein. Ihm gefielen meine Biografie und mein Werdegang, diese Mischung aus Künstlerischem und Handwerklich-Praktischem. Er fragte mich, wie ich die Bewohnerinnen erreichen wolle. Ohne groß zu überlegen, antwortete ich, man könne ja – unter dem Titel „Häkeln und Mäkeln“ – Zusammenkünfte von Frauen organisieren und dabei Austausch, Gespräche und kulturelle Bildung fördern. 

Die Idee gefiel Buschkowsky so gut, dass er selbst auf ihre Umsetzung achtete. Und so wurde tatsächlich unter dem Titel „Häkeln und Mäkeln“ erfolgreich meine erste Frauengruppe initiiert. Sie begann mit viel Eifer und Ernsthaftigkeit und hatte lange Zeit Bestand, obwohl mir eine der Frauen nach einem Jahr gestand, dass von Häkeln ja keine Rede sein könne, denn alle würden nur stricken. Ich kannte den Unterschied gar nicht! 

Acht Jahre blieb ich im Quartiersmanagement. Dann machte mich eine Kollegin auf eine Ausschreibung der Komischen Oper aufmerksam. Auch dort brachen neue Zeiten an, man suchte nach einem Verantwortlichen für die Konzeption und Durchführung einer Öffnungsstrategie hin zu einer immer vielfältigeren Stadtgesellschaft. 

Ich mochte Musiktheater und Oper, hatte aber keine Ahnung von klassischer Musik. Dennoch juckte es mir sprichwörtlich in den Fingern, als ich die Ausschreibung las: Musiktheater zu „opernfernen“ Menschen bringen und sie für diese Art Musik begeistern. Wider alle Wahrscheinlichkeit bekam ich den Job und begann 2011 als erster fest angestellter türkischstämmiger Projektleiter mit meiner Arbeit an der Komischen Oper Berlin. 

Ich machte mich an die Entwicklung eines Konzepts. Als Erstes waren mir die Kinder wichtig. Ich drängte darauf, Jungen und Mädchen mit migrantischem Hintergrund im Alter von sechs bis zwölf Jahren in den Kinderchor der Komischen Oper aufzunehmen. Ich sprach Eltern an, war unentwegt in Kiezen, Quartieren, Stadtteilen unterwegs und erzählte von der kostenlosen Ausbildung, den Proben, den Auftritten. Ich erzählte nichts von Milieus, Bildungsnähe oder -ferne, Türkisch, Arabisch, einheimischen Deutschen, geschweige denn von Migrationshintergründen. Die Mund-zu-Mund-Werbung gelang, und innerhalb kürzester Zeit spiegelte sich die Vielfalt der Stadt im Kinderchor der Komischen Oper Berlin wider. 

Später wurde der „Operndolmuş“ geboren, eine Art Sammeltaxi mit Musiker:innen und Sänger:innen des Opernhauses. Vollgepackt besuchen wir in der ganzen Stadt Einrichtungen, Vereine, Stadtbibliotheken. Wir treten in Berliner Hinterhöfen auf – in Pandemiezeiten mit Abstandsregeln – und bekommen Beifall aus Fenstern und von Balkonen. Kein Weg war und ist uns zu weit, kein Raum zu klein, und egal, ob drei oder 100 Zuschauer:innen vor uns sitzen, wir treten auf und bieten das an, was wir am besten können: Geschichten erzählen, die in Musik gegossen sind und Gefühle hervorrufen, die universell verstanden werden. Einmal haben wir es mit dem „Operndolmuş“ auf der sogenannten Gastarbeiterroute sogar bis nach Istanbul geschafft. 

An den Orten, zu denen der „Operndolmuş“ fährt, gibt es kein trennendes Podium, die Grenze zwischen Künstlerinnen und Publikum ist durchlässig, alle befinden sich im selben Raum ganz nah beieinander. Das baut Hürden ab. Nach jedem Auftritt haben die Zuschauer nämlich die Möglichkeit, mit den Künstlerinnen und Künstlern zu sprechen. Das nutzt auch der Komischen Oper: Die interkulturelle Kompetenz wächst, man bekommt ein Gefühl dafür, was ein Berliner Publikum heutzutage braucht. 

Ich sehe mich in der Rolle des Brückenbauers, Möglichmachers, der allen, die wollen, das Musiktheater öffnet. Dafür müssen wir eingefahrene Wege verlassen, Neugier wecken, Neues wagen. Dafür bekomme ich nicht immer Beifall, ich brauche Mut, das Risiko des Falschmachens nicht zu scheuen. Ich habe aus meinen Fehlern viel gelernt, und es macht mir noch immer Spaß, mich zu engagieren – für Kunst, die Menschen aus anderen Milieus nicht bedrängt oder ihnen gegenüber den erhobenen, Überlegenheit signalisierenden Finger der Kulturvermittlung erhebt. 

In meiner Kindheit, wenn die Schulferien kamen, packten meine Eltern das Auto bis obenhin voll und nahmen die Strapazen auf sich, mit ihrer sechsköpfigen Familie in die Türkei zu fahren. Dort angekommen, begrüßte mein Opa Muzaffer mich immer mit einem Klaps auf den Nacken und dem Wort „kerata“. Ich mochte dieses Wort sehr, weil ich die liebevolle Zuwendung spürte. Lange wusste ich nicht, was es bedeutet, fragte auch nie danach, ahnte aber, was es bedeuten könnte. Irgendwann, schon fast erwachsen, erfuhr ich, dass „kerata“ Schlingel oder Strolch heißt – aber auch „Schuhanzieher“. 

Ich finde, der Name passt zu mir, denn genauso fühlte und fühle ich mich oft. Nämlich wie jemand, der etwas wie ein Schuhanzieher zusammenfügt oder, übertragen ausgedrückt, Begegnungen ermöglicht und Menschen zusammenzubringt. 

Ich liebe die Neue Deutsche Welle und anatolisch-türkischen Rock, ich esse Köfte, Pizza und Berliner Kartoffelsuppe, es macht mir Spaß, die Werkzeugkiste des Klempners hervorzuholen und auf Opernbällen Small Talk zu pflegen. 

Und ich haben einen Wunsch! Ich wünsche mir von Herzen, dass die Lebensleistung der Türkeistämmigen anerkannt wird, die sich vor 60 Jahren auf den Weg nach Deutschland gemacht haben. Dass sie als eine Bereicherung gesehen werden. Dass sie endlich aus vollem Herzen willkommen geheißen werden. Dass die Zeiten von „Çabuk çabuk!“ hoffentlich für immer vorbei sind.
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