Die Trainer und Betreuer behandelten uns Jungen alle gleich. Es gab keine Deutschen, Jugos, Italiener oder Türken. Wir waren Spieler einer Mannschaft und entsprechend unseren Fähigkeiten und unserer Leistung aufgestellt. Wobei, bei Auswärtsspielen war es anders. Wenn wir gegen Mannschaften im Berliner Osten spielten, die wenig Vielfalt in ihren Teams kannten, war die Stimmung schon mal angeheizt. Und manchmal endete das in handfesten Prügeleien.
Sie wussten genau, wie sie uns provozieren mussten. „Ihr blöden Kanaken“, riefen sie uns zu, schon stieg der Pegel auf dem Platz, und es gab die ersten bösen Fouls und roten Karten. Ich kann Ungerechtigkeiten schlecht ertragen, ich sprang als Letzter an, aber war der Erste, der dann richtig explodierte. Die Eltern am Spielfeldrand beschimpften einander, der Schiri pfiff, Rangelei, das Spiel wurde abgebrochen. Oft ging es erst richtig los nach dem Abpfiff, sie warteten auf uns, wenn wir aus der Umkleide kamen, oder wir auf sie, und dann gab es aufs Maul, verstauchte Knöchel, geplatzte Lippen, gebrochene Nasen. Und natürlich war allen klar, wie es beim Rückspiel aussehen würde. Wir hielten zusammen, ganz gleich, woher wir kamen.
Ja, das war abenteuerlich. Das schult fürs Leben. Und war nichts im Vergleich zu den Grobheiten, die einem vonseiten der Politik und aus den Medien entgegenschallten. Als junger Erwachsener wurde mir bewusst, dass man uns, die hier über Jahre Wurzeln schlugen, permanent das Gefühl gab, nur auf Zeit geduldet zu sein.
Ich erinnere mich genau an den Brandanschlag im Mai 1993 auf eine türkischstämmige Familie in Solingen, bei dem zwei junge Frauen und drei Mädchen ums Leben kamen. Darauf folgten Anschläge in Rostock, Mölln, Hoyerswerda und die NSU-Morde. Auch in neuester Zeit reißt mit Halle und Hanau die Reihe von ausländerfeindlichen Attacken nicht ab. Der Anschlag in Solingen ist jedenfalls in seiner Signalwirkung nach wie vor bei mir präsent. Er hat mich zum Nachdenken gebracht und skeptisch werden lassen.
Ich konnte noch so wohlbehütet aufwachsen, meinen Lehrerinnen und Lehrern vertrauen und erleben, wie sie auf Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für meine Rechte und die meiner Eltern kämpften. Dennoch blieb und bleibt unter der ersten Generation der Gastarbeiter das verunsichernde Gefühl, nicht willkommen zu sein. Bewusst oder unbewusst wird dieser Eindruck an die folgenden Generationen weitergegeben und prägt, wie ich auch an mir wahrnehmen kann, ihr Lebensgefühl.
Dieses Lebensgefühl des Provisorischen beeinflusste zunächst auch meine Berufswahl. Ich wurde zwar von meinen Eltern zu nichts gezwungen. Wenn man jedoch bei jeder Gelegenheit hört, dass man mit dem gewählten Beruf auch in der „Heimat“ etwas anfangen können muss, kann es passieren, als Azubi bei den Klempnern und Gas-Wasser-Installateuren zu landen. Das bedeutet, sommers wie winters morgens um sieben Uhr auf der Baustelle zu sein, abends einen rußigen Heizkessel zu säubern, Dachrinnen in schwindelerregender Höhe zu löten, Fliesen zu schleppen und zu legen, Rohre zu installieren, zu schweißen, Abflüsse zu reinigen und Verstopfungen zu beseitigen.
Als Lohn winkten nach drei Jahren neben dem Gesellenbrief Demut und Respekt vor dem Handwerk und die Fähigkeit, für den Rest meines Lebens alle meine sanitären Probleme selbst regeln zu können. Außerdem gewann ich prägende Lebenserfahrungen in einem sehr bodenständigen deutschen Milieu. Zum Abschied sagte mir mein Meister, egal, was auf der Welt passiere und in welcher Krise die Menschheit auch stecke: „Aufs Klo müssen alle!“
Im Anschluss an meine Ausbildung begann ich zunächst zu studieren. Mit dem Gedanken im Hinterkopf, eines Tages zurück nach Anatolien gehen zu müssen, entschied sich meine türkische Stimme für Energie- und Versorgungstechnik. Außerdem rieten mir meine Eltern und Verwandten, für den Fall der Rückkehr meinen türkischen Pass zu behalten. Obwohl es für mich, der ich in Berlin geboren wurde und immer in Ausbildung oder Arbeit war, kein Problem gewesen wäre, die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen, behielt ich tatsächlich meinen türkischen Pass. Ironischerweise bin ich heute damit allein in meiner Familie, alle anderen sind inzwischen eingebürgerte Deutsche.
Nach einer Weile merkte ich, dass mir das Ingenieurstudium nicht lag. Und ich beschloss, eine Ausbildung zum Schauspieler zu machen.
Kurz danach wollte es der Zufall, dass mich die Managerin einer Reederei fragte, ob ich nicht auf einem Kreuzfahrtschiff als Entertainer arbeiten wolle. Jung und abenteuerlustig, wie ich war, heuerte ich auf der Aida an und war einige Jahre auf den Weltmeeren unterwegs. Ich entertainte die Urlauber und sah nebenbei Häfen in allen möglichen Teilen der Erde. Wenn ich meine Kabine verließ, ging sofort der Job los. Das war hart, aber ich lernte viel. Vor allem kam es darauf an, sich flexibel auf Menschen und neue Situationen und Gegebenheiten einzustellen.
Obwohl ich das Meer lieber vom Strand aus betrachtete, schipperte ich für viele Monate darauf herum. Von Menschen aus Anatolien abstammend, lag mir das Schwimmenlernen in meiner Kindheit und Jugend nicht am Herzen. Und so kam es, dass ich zwar einer Seetauglichkeitsprüfung unterzogen wurde, niemand jedoch nach meinen ganz und gar kümmerlichen Schwimmkenntnissen fragte. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen machte ich den Job gerne, aber nach einiger Zeit kam das Heimweh. Mir fehlten Berlin, die Berlinerinnen und Berliner, die Freunde und die Familie.
Nach meiner Zeit auf dem Schiff arbeitete ich zum Teil als Warm-Upper und stand für verschiedene Fernsehformate auf der Bühne. Nebenher konzipierte ich Stadtführungen und heuerte schließlich bei S.T.E.R.N an, einer Gesellschaft für behutsame Stadterneuerung. Ich wurde Teil des Quartiersmanagements für die Gropiusstadt, ein Hochhausviertel in Neukölln.
Heinz Buschkowsky, damals Bürgermeister Neuköllns, ließ es sich nicht nehmen, bei den Bewerbungsgesprächen dabei zu sein. Ihm gefielen meine Biografie und mein Werdegang, diese Mischung aus Künstlerischem und Handwerklich-Praktischem. Er fragte mich, wie ich die Bewohnerinnen erreichen wolle. Ohne groß zu überlegen, antwortete ich, man könne ja – unter dem Titel „Häkeln und Mäkeln“ – Zusammenkünfte von Frauen organisieren und dabei Austausch, Gespräche und kulturelle Bildung fördern.
Die Idee gefiel Buschkowsky so gut, dass er selbst auf ihre Umsetzung achtete. Und so wurde tatsächlich unter dem Titel „Häkeln und Mäkeln“ erfolgreich meine erste Frauengruppe initiiert. Sie begann mit viel Eifer und Ernsthaftigkeit und hatte lange Zeit Bestand, obwohl mir eine der Frauen nach einem Jahr gestand, dass von Häkeln ja keine Rede sein könne, denn alle würden nur stricken. Ich kannte den Unterschied gar nicht!
Acht Jahre blieb ich im Quartiersmanagement. Dann machte mich eine Kollegin auf eine Ausschreibung der Komischen Oper aufmerksam. Auch dort brachen neue Zeiten an, man suchte nach einem Verantwortlichen für die Konzeption und Durchführung einer Öffnungsstrategie hin zu einer immer vielfältigeren Stadtgesellschaft.
Ich mochte Musiktheater und Oper, hatte aber keine Ahnung von klassischer Musik. Dennoch juckte es mir sprichwörtlich in den Fingern, als ich die Ausschreibung las: Musiktheater zu „opernfernen“ Menschen bringen und sie für diese Art Musik begeistern. Wider alle Wahrscheinlichkeit bekam ich den Job und begann 2011 als erster fest angestellter türkischstämmiger Projektleiter mit meiner Arbeit an der Komischen Oper Berlin.
Ich machte mich an die Entwicklung eines Konzepts. Als Erstes waren mir die Kinder wichtig. Ich drängte darauf, Jungen und Mädchen mit migrantischem Hintergrund im Alter von sechs bis zwölf Jahren in den Kinderchor der Komischen Oper aufzunehmen. Ich sprach Eltern an, war unentwegt in Kiezen, Quartieren, Stadtteilen unterwegs und erzählte von der kostenlosen Ausbildung, den Proben, den Auftritten. Ich erzählte nichts von Milieus, Bildungsnähe oder -ferne, Türkisch, Arabisch, einheimischen Deutschen, geschweige denn von Migrationshintergründen. Die Mund-zu-Mund-Werbung gelang, und innerhalb kürzester Zeit spiegelte sich die Vielfalt der Stadt im Kinderchor der Komischen Oper Berlin wider.
Später wurde der „Operndolmuş“ geboren, eine Art Sammeltaxi mit Musiker:innen und Sänger:innen des Opernhauses. Vollgepackt besuchen wir in der ganzen Stadt Einrichtungen, Vereine, Stadtbibliotheken. Wir treten in Berliner Hinterhöfen auf – in Pandemiezeiten mit Abstandsregeln – und bekommen Beifall aus Fenstern und von Balkonen. Kein Weg war und ist uns zu weit, kein Raum zu klein, und egal, ob drei oder 100 Zuschauer:innen vor uns sitzen, wir treten auf und bieten das an, was wir am besten können: Geschichten erzählen, die in Musik gegossen sind und Gefühle hervorrufen, die universell verstanden werden. Einmal haben wir es mit dem „Operndolmuş“ auf der sogenannten Gastarbeiterroute sogar bis nach Istanbul geschafft.
An den Orten, zu denen der „Operndolmuş“ fährt, gibt es kein trennendes Podium, die Grenze zwischen Künstlerinnen und Publikum ist durchlässig, alle befinden sich im selben Raum ganz nah beieinander. Das baut Hürden ab. Nach jedem Auftritt haben die Zuschauer nämlich die Möglichkeit, mit den Künstlerinnen und Künstlern zu sprechen. Das nutzt auch der Komischen Oper: Die interkulturelle Kompetenz wächst, man bekommt ein Gefühl dafür, was ein Berliner Publikum heutzutage braucht.
Ich sehe mich in der Rolle des Brückenbauers, Möglichmachers, der allen, die wollen, das Musiktheater öffnet. Dafür müssen wir eingefahrene Wege verlassen, Neugier wecken, Neues wagen. Dafür bekomme ich nicht immer Beifall, ich brauche Mut, das Risiko des Falschmachens nicht zu scheuen. Ich habe aus meinen Fehlern viel gelernt, und es macht mir noch immer Spaß, mich zu engagieren – für Kunst, die Menschen aus anderen Milieus nicht bedrängt oder ihnen gegenüber den erhobenen, Überlegenheit signalisierenden Finger der Kulturvermittlung erhebt.
In meiner Kindheit, wenn die Schulferien kamen, packten meine Eltern das Auto bis obenhin voll und nahmen die Strapazen auf sich, mit ihrer sechsköpfigen Familie in die Türkei zu fahren. Dort angekommen, begrüßte mein Opa Muzaffer mich immer mit einem Klaps auf den Nacken und dem Wort „kerata“. Ich mochte dieses Wort sehr, weil ich die liebevolle Zuwendung spürte. Lange wusste ich nicht, was es bedeutet, fragte auch nie danach, ahnte aber, was es bedeuten könnte. Irgendwann, schon fast erwachsen, erfuhr ich, dass „kerata“ Schlingel oder Strolch heißt – aber auch „Schuhanzieher“.
Ich finde, der Name passt zu mir, denn genauso fühlte und fühle ich mich oft. Nämlich wie jemand, der etwas wie ein Schuhanzieher zusammenfügt oder, übertragen ausgedrückt, Begegnungen ermöglicht und Menschen zusammenzubringt.
Ich liebe die Neue Deutsche Welle und anatolisch-türkischen Rock, ich esse Köfte, Pizza und Berliner Kartoffelsuppe, es macht mir Spaß, die Werkzeugkiste des Klempners hervorzuholen und auf Opernbällen Small Talk zu pflegen.
Und ich haben einen Wunsch! Ich wünsche mir von Herzen, dass die Lebensleistung der Türkeistämmigen anerkannt wird, die sich vor 60 Jahren auf den Weg nach Deutschland gemacht haben. Dass sie als eine Bereicherung gesehen werden. Dass sie endlich aus vollem Herzen willkommen geheißen werden. Dass die Zeiten von „Çabuk çabuk!“ hoffentlich für immer vorbei sind.