Özlem Türeci

„Mein Aha-Erlebnis: Kaum hatte ich eine Sache verstanden, eröffneten sich neue Fragen“

Medizin faszinierte sie schon als Kind. Ihr Vater war Arzt in einem kleinen Krankenhaus in Niedersachsen, sie begleitete ihn auf Visite. Als Studentin begegnete sie ihrem Mann Uğur Şahin, gemeinsam gründeten sie BioNTech. Dort ist Özlem Türeci Chief Medical Officer – und brachte auch die Entwicklung des Corona-Impfstoffs zu einem Touchdown.

Dr. med. Özlem Türeci, geboren am 6. März 1967 in Lastrup, ist Ärztin, Wissenschaftlerin und Unternehmerin. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Prof. Dr. Uğur Şahin gründete sie 2008 das Unternehmen BioNTech und ist seit 2018 medizinische Geschäftsführerin (CMO) von BioNTech. 2001 war sie Mitgründerin von Ganymed Pharmaceuticals. Sie ist Vorsitzende und Mitinitiatorin der gemeinnützigen Organisation Cluster for Individualized Immune Intervention (Ci3) sowie Vorstandsmitglied der Association for Cancer Immunotherapy (CIMT). Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Identifikation und Charakterisierung von tumorspezifischen Molekülen und die Entwicklung von Immuntherapien gegen Krebs. 2002 Habilitation an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz im Fach Molekulare Medizin. 1992 promovierte sie an der Medizinischen Fakultät des Saarlandes in Homburg.
Ich bin in Lastrup aufgewachsen, südwestlich von Bremen. Damals, in den Siebzigern, war das ein Dörfchen, ein paar Häuser, ein paar Geschäfte, rundherum Bauernhöfe, auf denen Kühe oder Hühner gezüchtet wurden. Es gab dort ein ehemaliges Nonnenstift, nun umgebaut zu einem Krankenhaus, aber noch immer geführt von den Nonnen, zauberhaften, agilen Damen in weißen Ornaten, die alles am Laufen hielten.

Dort war mein Vater Arzt. Der einzige Mann, der einzige Moslem, der einzige Ausländer weit und breit. Er war nach seinem Studium nach Deutschland gekommen und von der Ärztekammer nach Lastrup entsandt worden. Nun war er zuständig für die Versorgung der näheren Region.

Wir lebten gegenüber in einem Häuschen, in dem auch die Praxis meines Vaters war. An diesen beiden Orten hat sich meine Kindheit abgespielt: in seiner Praxis und im Krankenhaus. Und das begann wirklich früh. Während die anderen Kinder im Sandkasten buddelten, lief ich meinem Vater hinterher und sah ihm bei der Arbeit zu. Schaute zu, wie er in der Ambulanz ein Bein gipste, begleitete ihn auf Visite. Mein Vater stellte mich den Patienten vor, ich stand daneben und schaute zu, wie er sie untersuchte. Als ich sechs war, durfte ich zum ersten Mal bei einer Blinddarm-OP dabei sein. Ich musste mich steril kleiden, mir die Hände minutenlang abschrubben und desinfizieren, genau wie die Erwachsenen. Und fühlte mich wie eine kleine Ärztin. 

Einmal, ich muss acht gewesen sein, war ich mit meinem Vater auf Visite, als plötzlich der Ruf kam, er solle in die Ambulanz kommen. Als wir dort ankamen, saß dort eine Mitschülerin von mir. Sie war vom Baum gefallen und hatte eine Platzwunde. Während mein Vater die Wunde desinfizierte und nähte, schauten wir einander an. Es war für uns beide spannend, uns plötzlich hier zu begegnen. 

Als sie mich fragte, ob es schlimm sei, konnte ich ihr erklären: Nein, das sei eine ganz normale Platzwunde und das Nähen sei genauso routinemäßig verlaufen wie die Male davor. 

Die Welt der Medizin hat mich seither fasziniert. Ich habe die Fürsorge um Patienten erlebt, die Dankbarkeit von Patienten gesehen, mitbekommen, wie sich das Leben einer Familie veränderte, wenn erst jemand krank war und dann hoffentlich wieder gesund wurde. Ich bin jung mit dem Sterben konfrontiert worden und habe verstanden, dass auch das zu diesem Beruf gehört.

Ich wusste früh, dass ich Ärztin werden möchte. Wobei ich anfangs dachte, dass der Weg dahin über das Nonnentum führt. Ich bildete mir ein, die Damen seien in Ausbildung, irgendwann würden auch sie ärztlich tätig sein und habe darum gedacht: Ja, dann werde ich auch zuerst Nonne. 

In der Schule haben mich Naturwissenschaften fasziniert. In der Oberstufe hatte ich Biologie-Leistungskurs und begann, die Arztzeitschriften meines Vaters zu lesen. Und egal was ich las oder machte, immer wieder hatte ich dieses Aha-Erlebnis: Du kannst noch mehr nachfragen, du kannst noch tiefer reingehen, es hört nicht auf. Wenn ich dieses eine Kapitel im Schulbuch gelesen und diese eine Sache verstanden habe, eröffnen sich neue Fragen. Begriff, dass es nicht nur mir so ging, sondern auch den Experten. Dass auch sie sagen müssen: Bis hierher wissen wir es und ab hier wissen wir es noch nicht. Das hat mich elektrisiert. Festzustellen: die Detektivgeschichte hört nie auf. Man hat den ersten Fall gelöst, aber dahinter verbirgt sich immer noch einer. Und so habe ich vor allen Dingen viel gelesen während jener Jahre. Ich hatte Gleichgesinnte mit den gleichen Interessen, wir lasen die gleichen Sachen und diskutierten darüber. 
Ich bin diejenige, die hilft, die konkreten Lösungen zu erarbeiten. Wenn wir ein Projekt starten, bringe ich es zum Touchdown. Wir arbeiten wirklich unglaublich gut zusammen, mein Mann und ich. Ja, das ist ein unschätzbares Glück.
Dem Thema Krebserkrankung bin ich erst im Krankenhaus in Lastrup, später im Biologieunterricht begegnet, las Bücher darüber, was eine DNA ist, wie Zellen funktionieren, wie sie entarten, wie komplex diese Mechanismen sind und wieviel es da noch zu entdecken gibt. Und wusste schon während der Oberstufe, dass das eine meiner Top-Prioritäten bei meiner Berufswahl sein würden: Wie kann Hightech helfen, um komplizierte Erkrankungen anzugehen?

Vielleicht habe ich in jenen Jahren auch Diskriminierung erfahren. Aber wenn, dann ist es mir nicht bewusst geworden. Ich bin nicht in Köln oder Berlin aufgewachsen, sondern in Lastrup. Es gab sonst niemanden, der eine andere Sprache gesprochen hat, wenn man Plattdütsch jetzt mal nicht als andere Sprache zählt. Falls wir anders behandelt wurden – lag es an unserer Herkunft? Und überhaupt – wird nicht jeder und jede irgendwann wegen irgendwas diskriminiert?

Nach dem Abitur bin ich zum Medizinstudium nach Homburg gegangen, an die Universität des Saarlandes. Bald war mir klar, dass ich mich auf Onkologie und Immunologie spezialisieren würde, dass ich es irgendwie miteinander kombinieren will. Das erschien mir spannend, ich ahnte, dass hier eine Ära bevorstand, in der viele entscheidende Durchbrüche passieren würden und ich wollte diese hautnah miterleben. Und habe bald, während des Studiums, mit meiner Doktorarbeit begonnen, habe mir das gentechnische und molekulare Handwerkszeug angeeignet und mit Krebszellen gearbeitet.

In einem meiner letzten Semester, an einem Montagmorgen, habe ich meinen Mann Uğur kennengelernt. Er hatte in Köln studiert und war seinem Doktorvater nach Homburg gefolgt, zunächst war er Arzt im Praktikum. Ich war im letzten Jahr meines Medizinstudiums. Das bedeutete Rotation auf Stationen, um dort das Arbeiten am Patientenbett kennenzulernen. 

Ich war ihm zugeteilt und habe mich vorgestellt. Von unseren Namen her war es natürlich sofort klar, dass wir beide Türken sind. Wir haben dann auch gesagt: Ach ja, der Name hört sich türkisch an, woher kommen deine Eltern? Das ist der Klassiker, immer wenn man hört, der andere ist Türke, kommt als erstes die Frage: Aus welcher Stadt kommen die Eltern? 

Das Leben im Krankenhaus war hektisch. Auf einer onkologischen Station in einer Uniklinik sind viele der Patienten in einem kritischen Zustand, ständig kämpft man um Leben und Tod. Da bleibt nicht viel Gelegenheit, sich zu unterhalten. Wir haben aber immer wieder mal zwischendurch Zeit füreinander gefunden und gemerkt, dass uns die gleichen Themen interessieren. Mein Mann hat in seiner Doktorarbeit an etwas Pionierhaftem gearbeitet – eine neuartige Präzisions-Immuntherapie, ich fand das ganz spannend. Jemand, der diese Technologien beherrschte, das war für mich eine Art Rockstar. 

So sind wir ins Gespräch gekommen, und nach einer Weile wurden wir ein Paar. Das war 1992. Wir gehen also schon sehr lange diesen Weg zusammen.

Endlos haben wir miteinander geredet, Pläne geschmiedet, Ideen ausgetauscht. Von Anfang an haben wir beide daran geglaubt, dass es möglich sein muss, neueste Forschung schnell zum Patienten zu bringen. Die Entwicklung innovativer Medikamenten dauert im Krebsbereich rund zehn Jahre, kostet 3-stellige Millionen. Wenn etwas beim Patienten ankommt, ist es eigentlich veraltet. Das ist erschreckend.

Diese Gespräche haben uns elektrisiert. Stell dir vor, wir könnten das, was wir im Labor zusammenbasteln, direkt zum Patienten bringen – was für einen Unterschied würde das machen, begeisterten wir uns. Neumodisch heißt das „translationale Medizin“, oder „From Science to Survival“ –wissenschaftliche Daten direkt in Überleben zu übersetzen. Über all das haben wir uns damals Gedanken gemacht.

Die Euphorie des Neuanfangs, die Freude am gemeinsamen Herumdenken, die Magie etwas Neues zu entwerfen – das begleitet uns seither. Das hatten wir, als wir 2001 Ganymed gegründet haben, unsere erste Firma. Und 2008, als wir BioNTech gegründet haben. Wenn wir eine neue Idee haben, wenn wir uns auf unbekanntes Territorium hinauswagen, dann ist es jedes Mal ein Moment leiser Euphorie. Und weil mein Mann jemand ist, der übersprudelt vor Ideen und wir ständig neue Projekte anstoßen, erleben wir immer wieder dieses Glück. 

In Deutschland ist die Gründung einer medikamentenentwickelenden Firma mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden. Das ist einfach so. Weil wir den normalen Karriereweg verlassen, als Mediziner und als Wissenschaftler, weil wir finanzielle Risiken auf uns nehmen, weil wir Verantwortung für Mitarbeiter und ihre Familien tragen. Wir sind ja nun einmal ein Venture Capital Unternehmen. Es gibt per definition immer nur Geld für einen bestimmten Zeitraum, dann muss man die nächste Finanzierungsrunde machen. Ist jedesmal wie kurz vor der Insolvenz zu stehen. Das ist die Art und Weise, wie Venture Capital operiert, das bedeutet für jene, die Verantwortung übernehmen, persönliches Risiko. 

Mein Mann schaut am Wochenende immer, was in der Woche zuvor an wissenschaftlichen Daten publiziert worden ist. Ende Januar 2020 sah er diesen Artikel im „The Lancet“, in der eine Familie beschrieben wurde, die von Wuhan in zurück in ihre Heimatstadt gereist war und weitere Familienmitglieder mit dem neuen Virus angesteckt hatte. Es war klar, dass es ein hochinfektiöses Virus ist, das auch von scheinbar Gesunden weitergegeben werden kann. Er wusste, dass Wuhan mit Gott und der Welt verbunden ist, über Züge, Straßen, Flugverbindungen, und hat gleich ein paar Hochrechnungen gemacht. 

Damit kam mein Mann dann zu mir und sagte: Du, ich glaube, wir steuern auf ein globales Problem zu. Er ging davon aus, dass wir eigentlich schon längst in der Pandemie drin sind. Ich kenne meinen Mann lange genug, um so etwas ernst zu nehmen, er ist sehr gut darin, aus Daten Vorhersagen zu treffen. Und dann sind wir im Grunde direkt in die Details eingestiegen. Das Projekt, einen Impfstoff zu entwickeln, hat noch an diesem Wochenende an unserem Frühstückstisch begonnen. 

Welche glückliche Lage, dass wir jetzt, anderthalb Jahre später, nicht nur eines, sondern mehrere Vakzine haben. Hunderte Millionen Menschen sind geimpft. Wir müssen uns glücklich schätzen, dass es die Weltgemeinschaft geschafft hat, trotz aller Hick ups. 

Mein Mann ist der Visionäre, der Kreative, der zum einen sehr gut darin ist, komplexe Datensätze so zu analysieren, dass er gute Voraussagen machen kann. Wir vertrauen sehr auf seine Prognosen. Wenn er sagt, dieses Projekt wird so und so laufen, wir werden dieses und jenes sehen, wir müssen uns so und so darauf vorbereiten. Und das nicht nur bei wissenschaftlichen Fragen, auch in komplexen sozialen Situationen, etwa, wenn wir uns als Start-Up neues Risikokapital besorgen mussten, um unsere Firma durch die ein schwieriges Umfeld zu manövrieren. Auch das ist ja immer eine Analyse von Daten: Wie ticken Investoren, wie tickt der Markt, wie sind unsere Erfolgschancen. Also das kann er gut – genau wie Lösungen zu erarbeiten, die nicht direkt ersichtlich sind, 

In unserem Zusammenspiel bin ich diejenige, die hilft, die konkreten Lösungen zu erarbeiten. Ich bringe meine Zweifel ein, wir diskutieren und schärfen im Gespräch die Gedanken. Ich dekliniere durch, was aus wem folgt und was das genau heißt, bringe die Details der Umsetzbarkeit ins Spiel und hinterfrage, wie wir dieses oder jenes lösen können. Welche Hürden zu erwarten sind, wie wir sie überwinden können. Das ist immer wieder unsere Interaktion. Und wenn es dann losgeht, wenn wir ein Projekt starten, kümmere ich mich um den Touchdown in den operativen Details. 

Wir arbeiten wirklich unglaublich gut zusammen, mein Mann und ich. Ja, das ist ein unschätzbares Glück. 
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