Ich bekam ordentlich Ärger, als ich sie zu Hause vorführte. Die Folge: Ab da musste ich meinen Verdienst abgeben. Wobei, niemand wusste ja, wie viel genau ich verdiente. Also behielt ich ein Drittel für mich und hatte weiter ein schönes Leben.
In der neunten Klasse der Realschule machten wir ein Praktikum. Ich wollte Kfz-Mechaniker werden und suchte mir eine Werkstatt. Vielleicht hatte ich Pech, aber dort wurde ich nur rumkommandiert und ausgenutzt. Keiner hat mir irgend etwas erklärt. Es war trotzdem eine wichtige Erfahrung: Ich beschloss zu studieren – und wechselte auf das Sophie-Charlotte-Gymnasium in Charlottenburg.
Der Unterschied zu meiner Neuköllner Realschule war riesig. Ich fühlte mich wie ein Amateurspieler, der plötzlich beim FC Bayern auflaufen muss. Ich wählte Mathe und Physik als Leistungskurse, drehte zwei Ehrenrunden, und wieder habe ich mich durchgekämpft und bestand mein Abitur.
Die Zeit in der Oberstufe war schön – überschattet von einem schrecklichen Ereignis. Mete Ekşi, ich kannte ihn aus dem Gymnasium, ein freundlicher, lebensfroher Kerl, starb bei einer Schlägerei auf dem Ku’damm. Mehrere türkischstämmige Jugendliche prügelten sich mit drei Brüdern aus Marzahn. Die hatten einen Baseballschläger dabei und schlugen Mete Ekşi damit nieder. Nach 17 Tagen im Koma starb er am 13. November 1991. Viele vermuten, dass es ein rechtsextremer Angriff war.
Nach seinem Tod gab es einen riesigen Gedenkmarsch, später stellte man auf dem Adenauerplatz einen Gedenkstein auf mit den Worten: „Gegenseitiger Respekt und der Wille zur Gewaltfreiheit hätten sein Leben schützen können.“ Worte, die sich im Grundgesetz widerspiegeln. Worte, die jeder Bürger sich zu Herzen nehmen sollte.
Nach dem Abitur immatrikulierte ich mich im Fach Bauingenieurwesen. Im selben Jahr kam mein Sohn Deniz auf die Welt. Und später kam Asena. Ich musste meine Familie ernähren und habe in den ersten Jahren mehr gearbeitet als studiert, aber schließlich machte ich meinen Abschluss als Diplom-Bauingenieur.
Ich war nun ausgebildet, ich hatte eine junge Familie, ich wollte arbeiten, schrieb mir die Finger wund mit Bewerbungen – und kassierte eine Absage nach der nächsten. Bis nach Österreich und Südtirol bewarb ich mich. Es nützte nichts. Es gab in jenen Jahren einfach keine Jobs für Bauingenieure. Auf eine Stelle kamen bisweilen 300, 400 Bewerbungen. Einmal fand ich eine Stelle bei der DB-Bauüberwachung, verlor sie aber im letzten Moment wieder, weil bei der ärztlichen Untersuchung eine Rot-Grün-Sehschwäche zutage trat. Wir rutschten in die Sozialhilfe.
Wie gut, dass man mir eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme anbot, im Tiefbauamt von Treptow-Köpenick. Ich verdiente zwar nur 1.200 Euro brutto, aber das war mir egal. Hauptsache, in den Job hineinfinden, mein Können unter Beweis stellen, Kontakte knüpfen.
Es gelang: Von da aus ging ich als Straßenbauleiter zur Strabag AG. 50 bis 60 Stunden arbeitete ich und verdiente trotzdem so wenig, dass das Sozialamt mein Gehalt weiterhin aufstocken musste.
Danach wieder für zwei Jahre eine Stelle auf dem Bezirksamt Treptow-Köpenick, befristet.
Danach wieder Bewerbungen schreiben. Absagen kassieren. Weitermachen.
Schließlich fand ich eine Teilzeitstelle als Bezirksingenieur im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Ich stellte mich gut an, ich verstand mich mit den Kollegen. Die Stelle wurde entfristet. Sie wurde aufgestockt.
Endlich! Mit 39 Jahren hatte ich eine volle, fair bezahlte Arbeitsstelle.
Und es ging weiter. Mein damaliger Gruppenleiter sah mehr in mir und hat mich gefördert. Ich durchlief das Kompetenz-Plus-Programm, in dem Mitarbeiter zu Führungskräften geschult werden, und nahm an etlichen weiteren Seminaren teil.
2017 wurde ich selbst Gruppenleiter – und bin es bis heute. Ich darf 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anleiten und kann bei vielen Entscheidungen mitwirken. Ich mag meine Arbeit, ich bin stolz auf die vielen Dankesschreiben von Bürgerinnen und Bürgern für mein Engagement.
Ich war der Erste aus unserer Familie, der studiert hat. Wenn ich mich jetzt umschaue in meiner Verwandtschaft, werden es immer mehr. Die meisten meiner Neffen und Nichten haben heute einen Uni-Abschluss. Deniz und Asena, meine beiden Kinder, sind auf ein exzellentes Gymnasium gegangen, haben Klavier und Bratsche gelernt und machen eine tolle Ausbildung.
Eines weiß ich sicher: In der Türkei wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Ich bin glücklich, dass ich in diesem Land Bildung erwerben konnte. Dass ich ein Vorbild bin für die nächste Generation.