Mehmet Dilek

„Mein Weg war lang und steinig“

Er war der Erste in seiner Familie, der studierte. Und musste danach fast 15 Jahre kämpfen für einen vollen, fair bezahlten Job. Heute ist Mehmet Dilek Gruppenleiter in einem Berliner Bezirksamt und stolz darauf, dass er der nächsten Generation ein Vorbild ist.

Mehmet Dilek, geboren am 18. Januar 1971 in Berlin-Neukölln, machte sein Abitur 1993 am Sophie-Charlotte-Gymnasium in Charlottenburg, studierte Bauingenieurwesen und wurde Diplom-Bauingenieur. Dileks erster Job führte ihn zum Tiefbauamt von Treptow-Köpenick, danach wurde er Straßenbauleiter bei der Strabag AG. Später wechselte er als Bezirksingenieur in das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Durch die Unterstützung seines damaligen Gruppenleiters nahm er an mehreren Führungskräfteseminaren teil und wurde 2017 selbst Gruppenleiter für Straßenunterhaltung und -aufsicht in Kreuzberg und Friedrichshain. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg arbeitet er aktiv an der Mobilitätswende mit – und initiiert Radwege und Fußgängerzonen.
Ich bin Bauingenieur und leite die Gruppe für Straßenunterhaltung und -aufsicht in Friedrichshain-Kreuzberg. Im Augenblick planen und errichten wir vor allem Pop-up-Radwege, die wir später in dauerhafte Radwege umwandeln – eine Idee, für die wir im April 2021 den Deutschen Fahrradpreis erhalten haben.

Mein Team und ich kümmern uns um Ausschreibungen, wir machen Schulwege sicherer, sorgen gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern dafür, dass die Straßenbäume im Sommer genug Wasser kriegen, bauen und sanieren Straßen und vieles mehr. 

Ich bin angekommen. Und ich kann sagen: Der Weg war lang und steinig. Längst nicht so eben und gleichmäßig wie eine Kreuzberger Straße, die ich verantworte. Ich musste mich durchbeißen, durch Schule und Studium und prekäre Jobs. Aber jetzt läuft es. Und dafür bin ich dankbar. 

Meine Eltern lebten als Bauern in einem Dorf in Anatolien, sie besaßen ein Lehmhaus und drei Felder, womit sie den Lebensunterhalt für sich, meine zwei Schwestern und meine Großeltern bestritten. Da sie von der Landwirtschaft nicht leben konnten und es keine Jobs in unserem Heimatort gab, brach mein Vater bald auf ins 1.100 Kilometer entfernte Istanbul, um dort auf Baustellen zu arbeiten und so die Familie zu ernähren. 

1970 gingen meine Eltern zuerst nach Bayern, dann nach Berlin und fanden schnell Arbeit. Das einzige Ziel: Geld zu verdienen und nach einigen Jahren in die Türkei zurückzukehren. Natürlich sprachen sie kein Wort Deutsch, aber danach fragte damals niemand – Sprachkenntnisse waren keine Voraussetzung für einen Job in Deutschland. 

1971 wurde ich in Berlin geboren. Um voll arbeiten zu können, haben viele türkische Familien ihre Kinder in der Heimat aufwachsen lassen. Auch ich lebte als kleiner Junge für ungefähr ein Jahr bei meiner Großmutter in der Türkei. Als mein Bruder 1976 zur Welt kam, wurde ich erneut zu meiner Großmutter gebracht und besuchte die Grundschule im Dorf. Meine einzige Erinnerung an diese Zeit: dass ich neidisch auf die schönen Federtaschen und Radiergummis meiner Klassenkameraden war. Und dass mich Lernen kein bisschen interessierte. 

Als ich 1977 wieder in Berlin war, kam ich in die Silberstein-Grundschule in Neukölln. Meine Mutter konnte nicht lesen und schreiben, mein Vater hatte zwar die Grundschule besucht, aber weil er im Schichtdienst in einer Kaffeefabrik arbeitete, sah ich ihn kaum. So war ich von Anfang an auf mich gestellt. Keine Hilfe bei den Hausaufgaben, keine Elternabende. Einmal im Jahr wurde auf das Zeugnis geschaut, das war es. 

Aber in meinem Fall hat es nicht geschadet. Ich lernte, mich allein durchzubeißen. 

Als Kind sollte ich einmal zum nahen Bäcker gehen und Brot kaufen. Meine Mutter gab mir einen Zehn-Mark-Schein, aber als ich in der Bäckerei ankam, hatte ich das Geld verloren. Heulend lief ich die Straße auf und ab und suchte den Schein. Da sprach mich ein deutscher Herr an. Ich erzählte ihm von meinem Missgeschick. „Und du bekommst Ärger?“, fragte er. „Ja“, heulte ich. Da steckte er mir zehn Mark zu, einfach so, aus Mitmenschlichkeit, und ich konnte das Brot kaufen. So waren damals die Zeiten. Würde das heute noch jemand machen? Ich bin mir nicht sicher. 

Später, auf der Realschule, bekam ich immer nur Turnschuhe von Aldi, für zwölf Mark. Wer die trug, wurde gehänselt. Ich wollte Adidas haben, Puma oder Nike, genau wie die anderen. Also suchten mein Cousin und ich mit 14 einen Job. Wir kellnerten in einem Restaurant am Bahnhof Zoo, fast an jedem Wochenende und in den Ferien. Bald hatte ich genug Geld für teure Turnschuhe, echte Adidas für 119 Mark.   
Ich war nun ausgebildet, ich hatte eine junge Familie, ich wollte arbeiten, schrieb mir die Finger wund mit Bewerbungen – und kassierte eine Absage nach der nächsten. Bis nach Österreich und Südtirol bewarb ich mich. Es nützte nichts.
Ich bekam ordentlich Ärger, als ich sie zu Hause vorführte. Die Folge: Ab da musste ich meinen Verdienst abgeben. Wobei, niemand wusste ja, wie viel genau ich verdiente. Also behielt ich ein Drittel für mich und hatte weiter ein schönes Leben.

In der neunten Klasse der Realschule machten wir ein Praktikum. Ich wollte Kfz-Mechaniker werden und suchte mir eine Werkstatt. Vielleicht hatte ich Pech, aber dort wurde ich nur rumkommandiert und ausgenutzt. Keiner hat mir irgend etwas erklärt. Es war trotzdem eine wichtige Erfahrung: Ich beschloss zu studieren – und wechselte auf das Sophie-Charlotte-Gymnasium in Charlottenburg. 

Der Unterschied zu meiner Neuköllner Realschule war riesig. Ich fühlte mich wie ein Amateurspieler, der plötzlich beim FC Bayern auflaufen muss. Ich wählte Mathe und Physik als Leistungskurse, drehte zwei Ehrenrunden, und wieder habe ich mich durchgekämpft und bestand mein Abitur. 

Die Zeit in der Oberstufe war schön – überschattet von einem schrecklichen Ereignis. Mete Ekşi, ich kannte ihn aus dem Gymnasium, ein freundlicher, lebensfroher Kerl, starb bei einer Schlägerei auf dem Ku’damm. Mehrere türkischstämmige Jugendliche prügelten sich mit drei Brüdern aus Marzahn. Die hatten einen Baseballschläger dabei und schlugen Mete Ekşi damit nieder. Nach 17 Tagen im Koma starb er am 13. November 1991. Viele vermuten, dass es ein rechtsextremer Angriff war. 

Nach seinem Tod gab es einen riesigen Gedenkmarsch, später stellte man auf dem Adenauerplatz einen Gedenkstein auf mit den Worten: „Gegenseitiger Respekt und der Wille zur Gewaltfreiheit hätten sein Leben schützen können.“ Worte, die sich im Grundgesetz widerspiegeln. Worte, die jeder Bürger sich zu Herzen nehmen sollte. 

Nach dem Abitur immatrikulierte ich mich im Fach Bauingenieurwesen. Im selben Jahr kam mein Sohn Deniz auf die Welt. Und später kam Asena. Ich musste meine Familie ernähren und habe in den ersten Jahren mehr gearbeitet als studiert, aber schließlich machte ich meinen Abschluss als Diplom-Bauingenieur. 

Ich war nun ausgebildet, ich hatte eine junge Familie, ich wollte arbeiten, schrieb mir die Finger wund mit Bewerbungen – und kassierte eine Absage nach der nächsten. Bis nach Österreich und Südtirol bewarb ich mich. Es nützte nichts. Es gab in jenen Jahren einfach keine Jobs für Bauingenieure. Auf eine Stelle kamen bisweilen 300, 400 Bewerbungen. Einmal fand ich eine Stelle bei der DB-Bauüberwachung, verlor sie aber im letzten Moment wieder, weil bei der ärztlichen Untersuchung eine Rot-Grün-Sehschwäche zutage trat. Wir rutschten in die Sozialhilfe.

Wie gut, dass man mir eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme anbot, im Tiefbauamt von Treptow-Köpenick. Ich verdiente zwar nur 1.200 Euro brutto, aber das war mir egal. Hauptsache, in den Job hineinfinden, mein Können unter Beweis stellen, Kontakte knüpfen. 

Es gelang: Von da aus ging ich als Straßenbauleiter zur Strabag AG. 50 bis 60 Stunden arbeitete ich und verdiente trotzdem so wenig, dass das Sozialamt mein Gehalt weiterhin aufstocken musste. 

Danach wieder für zwei Jahre eine Stelle auf dem Bezirksamt Treptow-Köpenick, befristet. 

Danach wieder Bewerbungen schreiben. Absagen kassieren. Weitermachen. 

Schließlich fand ich eine Teilzeitstelle als Bezirksingenieur im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Ich stellte mich gut an, ich verstand mich mit den Kollegen. Die Stelle wurde entfristet. Sie wurde aufgestockt. 

Endlich! Mit 39 Jahren hatte ich eine volle, fair bezahlte Arbeitsstelle. 

Und es ging weiter. Mein damaliger Gruppenleiter sah mehr in mir und hat mich gefördert. Ich durchlief das Kompetenz-Plus-Programm, in dem Mitarbeiter zu Führungskräften geschult werden, und nahm an etlichen weiteren Seminaren teil. 

2017 wurde ich selbst Gruppenleiter – und bin es bis heute. Ich darf 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anleiten und kann bei vielen Entscheidungen mitwirken. Ich mag meine Arbeit, ich bin stolz auf die vielen Dankesschreiben von Bürgerinnen und Bürgern für mein Engagement. 

Ich war der Erste aus unserer Familie, der studiert hat. Wenn ich mich jetzt umschaue in meiner Verwandtschaft, werden es immer mehr. Die meisten meiner Neffen und Nichten haben heute einen Uni-Abschluss. Deniz und Asena, meine beiden Kinder, sind auf ein exzellentes Gymnasium gegangen, haben Klavier und Bratsche gelernt und machen eine tolle Ausbildung. 

Eines weiß ich sicher: In der Türkei wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Ich bin glücklich, dass ich in diesem Land Bildung erwerben konnte. Dass ich ein Vorbild bin für die nächste Generation. 
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