Ismail Ertug

„Meine Herkunft war für mich nie ein Thema“

„Herr Herzog“ verstanden viele am Telefon, wenn sie mit ihm redeten. Was auch daran liegen kann, dass er Deutsch mit oberpfälzischem Einschlag spricht. Ismael Ertug, SPD-Abgeordneter im Europaparlament, hat eine Vision: ein Verkehr mit Nullemission.

Ismail Ertug, geboren am 5. Dezember 1975 in Amberg, ist Mitglied des Europäischen Parlaments (MdEP). Seine politische Karriere begann im Juli 1999 mit dem Beitritt zur SPD und zu den Jusos. Von 2004 bis 2014 war Ertug Mitglied im Amberger Stadtrat. Im Brüsseler Parlament gehört er den Ausschüssen für Verkehr/Tourismus und Industrie/Energie an. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde er als Co-Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Verordnung über die Transeuropäischen Verkehrsnetze. Neben der legislativen Arbeit in Fachausschüssen ist er Mitglied in den Delegationen für die Beziehungen mit China und der arabischen Halbinsel.
Ich bin waschechter Oberpfälzer – und mit Leib und Seele Europäer. Geboren und aufgewachsen bin ich in Amberg, in der Nähe von Nürnberg, einer der Gegenden in Deutschland mit der höchsten Katholikendichte. Auch wenn ich einen internationalen Namen habe: Meine Herkunft war für mich nie ein Thema, und ich habe meine Herkunft nie zu einem Thema gemacht. Mein Herz schlägt für die Verkehrspolitik: Ich möchte dazu beitragen, dass der europäische Verkehr dekarbonisiert wird.

Meine Kindheit war deutscher als deutsch. Abends um halb acht war Schicht im Schacht, mein kleiner Bruder und ich mussten ins Bett, Widerspruch zwecklos. Morgens um sieben wurden wir geweckt, bekamen unser Frühstück und zogen zu Fuß los, er in den Kindergarten, ich zur Schule. 

Nachmittags spielten wir meist bei den Wellblechgaragen hinter unserem Haus. Wir fuhren Rad, malten uns Tennisplätze auf den Asphalt, kletterten über einen Zaun und trieben uns verbotenerweise auf einer verlassenen Fabrikanlage herum. Vor allem aber spielten wir Fußball. Die Jugos und die Griechen, die Italiener und die Spanier, der Manuel und der Jochen, eine ziemlich bunte Truppe. Klar gab es manchmal einen blöden Spruch, aber wir hielten zusammen. Vielleicht begann sie dort, meine internationale Ausrichtung, vielleicht liegen dort die Wurzeln meiner Karriere als Europaabgeordneter, irgendwo bei den Wellblechgaragen hinter unserem Haus. 

Meine Familie stammt aus Izmir, der Hafenstadt an der Ägäis. Meine Großeltern waren arm, die einen waren Fischer, die anderen Bauern. 1972 entschied sich mein Vater, nach Deutschland auszuwandern. Er kam ganz klassisch mit einem Holzkoffer in der Hand am Münchener Hauptbahnhof an und fand Arbeit in der Luitpoldhütte, der großen Gießerei in Amberg. Sein Plan: einige Jahre ranklotzen, Geld sparen, zurückkehren in die Türkei, also genau das Gleiche tun wie all die anderen Gastarbeiter auch. Es kam anders. Er heiratete meine Mutter, sie kam nach Deutschland, 1975 wurde ich geboren, fünf Jahre später mein Bruder. 

Und schon war der Große in der Schule und der Kleine im Kindergarten, und als Kanzler Kohl mit Geld winkte, um Menschen wie meine Eltern zur Rückkehr in die Türkei zu bewegen, dachten sie nicht eine Sekunde daran, dieses Angebot anzunehmen. 

Sie arbeiteten hart, meine Eltern. Meine Mutter machte bei Siemens Akkord, mein Vater bearbeitete in der Luitpoldhütte die frisch gegossenen Motorblöcke mit einer Flex. Ganz schwarz kam er manchmal nach Hause, als hätte er unter Tage gearbeitet und den ganzen Tag Kohle gehauen. Sie lebten in ihrer türkischen Bubble, meine Eltern. Die Arbeit, die Kinder – da blieb wenig Zeit zum Deutschlernen. 

Izmir ist die modernste Stadt der Türkei, es geht dort zu wie in einer europäischen Metropole. Die Männer tragen Shorts, die Frauen schminken sich, viele Menschen sind überzeugte Atatürk-Anhänger und alles andere als konservativ. Entsprechend „modern“ waren auch meine Eltern. Meine Mama trug bisweilen Minirock und erntete dafür so manches Mal Naserümpfen von traditionell geprägten türkischen Müttern. 
Nun ist Brüssel weit weg und vieles, was dort beschlossen wird, recht abstrakt und nicht auf Anhieb verständlich. Aber es hat Folgen für Hunderte Millionen Menschen. Ich durfte dazu beitragen, die Richtlinie zu den Transeuropäischen Netzen voranzutreiben.
Als Kind war ich oft in Izmir. Und dachte: Die ganze Türkei ist so. Bunt und modern, weltlich und wohlhabend. Erst viel später, bei meinen offiziellen Reisen als Politiker, lernte ich die ganze Türkei kennen und begriff, wie viele Facetten dieses große Land hat.

Ein Lehrer in der Grundschule hatte ein Problem mit uns vier Türken. Egal, was die Klasse anstellte, wir waren schuld, und dann hielt er uns einen Vortrag, dass wir zu Gast hier seien und uns ordentlich aufzuführen hätten. Ich hörte es, aber ich überhörte es. Ich nahm ihn nicht ernst. 

1988 geschah der Brandanschlag von Schwandorf. Das lag gleich nebenan, und was noch schlimmer war: Eine Arbeitskollegin meiner Mama verbrannte dabei. Ausländerfeindlichkeit, bis dahin hatte ich mir nichts darunter vorstellen können. Nun war sie schlagartig ganz nah. 

Am 17. Dezember 1988 hatte der 19-jährige Neonazi Josef S. ein dreistöckiges Haus in Schwandorf angezündet, in dem vor allem Migranten wohnten. Ein türkisches Ehepaar, ihr elfjähriger Sohn und ein deutscher Mann starben. Zwölf Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, als sie sich vor den Flammen und dem Rauch in Sicherheit bringen wollten und aus dem Fenster sprangen. 

Ein Schock für mich. Zumal es ja eigentlich Jahre des Aufbruchs waren. Ich wurde allmählich erwachsen, die Mauer fiel, wir wurden Fußballweltmeister, „Wind of Change“, eine Zeit der Hoffnung. Und zugleich diese Brandanschläge, erst in Schwandorf, später in Solingen und Mölln, dazu diese Skinhead-Aufmärsche in Ost und West, Hetzjagden auf Asylbewerber. Begleitet von den Tiraden des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber gegen alle, die nicht biodeutsch waren. Das wollte ich nicht hinnehmen. Dem wollte ich mich entgegenstellen. Das hat mich politisiert. 

Als ich 25 war, bin in die SPD eingetreten, gemeinsam mit einem kurdischstämmigen Bekannten. Die bleierne Zeit der Regierung Kohl war zu Ende, der rot-grüne Aufbruch begann. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen und ging zu den Jusos. Gleich im zweiten Jahr war die Nominierung für die Amberger Stadtratswahl. Vier von uns Jusos wurden von der Partei nominiert, allerdings auf den letzten vier Listenplätzen und damit gänzlich chancenlos. Aufmüpfig wie wir waren, sind wir gleich zum Parteivorstand gegangen und haben uns beschwert: Wenn wir schon antreten sollen, dann bitte schön auf einem vernünftigen Rang. Oder gar nicht. Die Parteioberen gaben nach, wir erhielten die Listenplätze 18 bis 21. 

Und wie es der Zufall so will – ich bekam einen Sitz im Stadtrat von Amberg. Über Nacht war ich Politiker, eine Karriere, die ich nie angestrebt hatte. Ich war Sozialversicherungsfachangestellter und bereitete mich vor auf mein Studium als Krankenkassen-Betriebswirt. Ich habe es später neben der Politik durchgezogen. 

Plötzlich aber war ich einer von 40 ehrenamtlichen Stadträten der 40.000-Einwohner-Stadt Amberg, lernte Kommunalpolitik in der bayerischen Provinz, die tief drinsteckt im CSU-Filz. Nicht lange, da durfte ich den größten SPD-Ortsverein führen und hatte acht Delegierte in meinem Rücken. 

Meine drei Juso-Freunde und ich fingen Feuer für die Politik. In einem Anfall von Größenwahn planten wir generalstabsmäßig, wer eines Tages was machen sollte. Einer von uns sollte Oberbürgermeister werden, einer in den Bayerischen Landtag einziehen, einer nach Berlin in den Bundestag gehen, ich sollte nach Europa. Daraus ist natürlich nichts geworden. Inzwischen ist einer von ihnen Richter, zwei haben in der Versicherungsbranche Karriere gemacht. Nur ich blieb der aktiven Politik treu. 

Vielleicht kann ich Dinge ganz gut auf den Punkt bringen, Allianzen schmieden, politische Anliegen voranbringen – jedenfalls sorgte die Oberpfälzer SPD dafür, dass ich 2009 bei der Wahl zum Europaparlament einen der drei sicheren bayerischen Listenplätze bekam. So wurde ich Abgeordneter in Brüssel. 

Eben weil ich ein Gastarbeiterkind bin, wollte ich nie in die Schublade Integrationspolitik gesteckt werden. Ich verschweige meine Herkunft nicht, aber ich gehe damit auch nicht hausieren. Ich habe Diskriminierung erfahren, aber ich mache keine Story daraus. Weder habe ich einen Vorteil aus meinen internationalen Wurzeln gezogen, noch hat mich das benachteiligt. Ich war immer „der Isi“. 

Eben weil ich ein Gastarbeiterkind bin, wollte ich nie in die Schublade Integrationspolitik gesteckt werden. Ich verschweige meine Herkunft nicht, aber ich gehe damit auch nicht hausieren. Ich habe Diskriminierung erfahren, aber ich mache keine Story daraus. Weder habe ich einen Vorteil aus meinen internationalen Wurzeln gezogen, noch hat mich das benachteiligt. Ich war immer „der Isi“. 

Diesen Rat gebe ich allen, die einen internationalen Namen haben: Lasst euch nicht auf eure Herkunft reduzieren. Schublade auf, rein, Schublade zu. Da kommst du nicht mehr raus. Zeig ihnen, wer du bist, was du kannst, unabhängig von deiner Herkunft, ganz gleich, woher du stammst! 

Als neu gewählter EU-Abgeordneter saß ich im Verkehrsausschuss und im Joint Parliamentary Committee EU-Turkey, in jener Gruppe von Abgeordneten, die sich um die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara kümmert. So kam es, dass ich wiederholt in die Türkei reiste, in ein mir fremdes Land – dessen Sprache ich nur miserabel sprach. 

Unsere erste Reise ging nach Ankara, eine moderne, bürgerliche Stadt mit hohem Bildungsniveau. Die zweite Reise ging nach Hatay an der syrischen Grenze, ein Schmelztiegel der Kulturen und Religionen. Zum ersten Mal begriff ich: Die Türkei ist nicht Izmir. 

Wir kamen an auf dem nagelneuen Flughafen, der gute Herr Erdoğan weiß schließlich: Je größer die Baustelle, je mehr Beton, desto höher die Bausumme und desto einfacher lässt sich Steuergeld in die Taschen seiner Oligarchen umleiten. 

Wir fuhren ins Zentrum. Dort gibt es eine jüdische Synagoge, eine christliche Kirche, eine muslimische Moschee – direkt nebeneinander, ja sie teilen dieselbe Mauer, ein gedrittelter Kreis. Ich war beeindruckt von der Vielfalt der Kulturen, der Gelassenheit und Gastfreundschaft der Menschen. Eine beeindruckende Reise. 

Danach war ich in Anatolien, in der Zentraltürkei – traditionell geprägte Gegenden, in denen man als Europäer gleich auffällt. Man kann dort nicht einfach in halblangen Hosen durch die Stadt laufen wie in Izmir. Ich habe meine türkischen Wurzeln noch einmal ganz neu entdeckt. 

Inzwischen bin ich seit zwölf Jahren im Parlament in Brüssel. Mein Schwerpunkt ist die Verkehrspolitik, ein unglaublich vielfältiges Thema von höchster Relevanz: Wollen wir den Klimawandel verlangsamen, müssen wir rasch Züge und Flugzeuge, Autos und Lastwagen wegkriegen von Öl, Benzin, Gas. 

Nun ist Brüssel weit weg und vieles, was dort beschlossen wird, recht abstrakt und nicht auf Anhieb verständlich. Aber es hat Folgen für Hunderte Millionen Menschen. Ich durfte dazu beitragen, die Richtlinie zu den Transeuropäischen Netzen voranzutreiben, die den Verkehr von Schiffen, Autos, Flugzeugen, den gesamten Personen- und Güterverkehr in der EU einfacher und umweltfreundlicher machen wird.    

Ich saß im Untersuchungsausschuss, der den Dieselskandal auf europäischer Ebene aufgearbeitet hat. Und ich habe dazu beigetragen, die europäische Ladeinfrastruktur voranzutreiben, gegen massive Widerstände auch aus Deutschland – jene Verordnung, die dafür sorgt, dass in der EU bald ein dichtes Netz von E-Tankstellen entstehen wird. Wer den Verkehr abkoppeln will vom Verbrennungsmotor, braucht diese Stromzapfsäulen. 

In Brüssel entscheidet sich, ob die EU ihre Klimaziele erreicht. Ich werde weiter dafür kämpfen. Wie gesagt: Ich bin mit Leib und Seele Europäer. Und ein waschechter Oberpfälzer.
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