Kader Gümüş

„Meine Kindheit und Jugend in Deutschland waren ein Albtraum“

Drogen und Gewalt. Mäuse und Kakerlaken. Kader Gümüş wuchs auf im Hochhausghetto von Köln-Chorweiler. Gleich nach dem Abitur verließ sie Deutschland und fand in den USA eine offenere, bessere Heimat. Jetzt schaut sie zurück, voll Zorn und Bitterkeit.

Kader Gümüş, geboren am 14. Juli 1979 in Köln, lebt seit 1999 als „third-culture immigrant“ in Washington, D.C. Sie ist Direktorin bei der Reli Group Inc., wo sie als Programm-Managerin Firmen im Federal-Government-Contract-Bereich betreut. Von 2008 bis 2012 war sie Beraterin für Lockheed Martin im US-Kongress in Washington, D.C. 2012 schloss sie ihren Master in Organization Development and Knowledge Management an der George Mason University mit summa cum laude ab. Zuvor hatte sie an der Oxford University in England European Policy studiert. Derzeit arbeitet sie an ihrer Promotion in „Leadership and Change“ an der Antioch University, Ohio. Sie gehört dem Justice Advisory Council in Fairfax, Virginia, und dem Council to End Domestic Violence an.
Ich war acht und spielte Hüpfekästchen mit einer meiner wenigen deutschen Freundinnen. Sie war etwas älter als ich, vielleicht elf oder zwölf. Wir hatten mit bunter Kreide Quadrate und Zahlen auf den Boden gemalt und hüpften darauf herum, da sagte sie plötzlich: „Ich bin schwanger.“

War das nicht etwas, was nur Erwachsenen passiert? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Erst mal habe ich nichts gemacht und bin weitergehüpft. Und dann bin ich losgerannt, immer weiter, bis ich meinen einzigen Zufluchtsort erreichte, die Bücherei. 

Ja, sie war schwanger und bekam ein Kind, von wem, weiß ich auch nicht, von einem Verwandten, einem Nachbarn, ihrem Freund? Ich weiß nur: Ab da ging ich nicht mehr nachmittags raus. Ich blieb in der Bibliothek. Dort war es warm und ruhig und trocken, das Chaos der Außenwelt war ausgeblendet. Und ging erst heim, wenn meine Eltern von der Arbeit kamen. Das hielt mich von den Straßen fern und lenkte mich davon ab, wie einsam und hungrig ich war. 

In der Bücherei musste ich im Erdgeschoss bleiben, hatte mir die Bibliothekarin befohlen. Der erste Stock mit seinen Sachbüchern und Romanen blieb mir versperrt. Nur das Erdgeschoss und die Kinderbücher darin standen mir offen. Bis ich in die fünfte Klasse kam, hatte ich jedes Kinderbuch gefühlt zweimal gelesen. Immer wieder wanderten meine Gedanken nach oben, in die erste Etage, zu den Büchern über Chemie und Geografie und Geschichte. Aber dorthin durfte ich nicht. Ich spürte, wie die Bibliothekarin mich beobachtete. 

Ich bin in Köln-Chorweiler aufgewachsen, damals wie heute ein „sozialer Brennpunkt“. Ein Hochhausghetto, in das man die Habenichtse, die Asozialen und die Gastarbeiter abschob. Ich bin das jüngste von sechs Kindern, wir hatten drei Schlafzimmer und zahlten viel Miete. Immer wieder fiel die Heizung aus, wir hatten Mäuse, aber so oft sich meine Eltern auch darüber beschwerten, fast nie hat sich jemand gekümmert. 

Am schlimmsten waren die Kakerlaken. Nachts, wenn ich in die Küche ging, um etwas zu trinken, hörte ich ihr Rascheln, und wenn ich das Licht anmachte, waren die Wände voller Schaben. Was habe ich mich davor geekelt. 

Rückblickend frage ich mich, wie ich das alles überlebt habe. Ich habe gelitten, ich wurde ausgegrenzt, ich wurde Zeuge von Schmerz und Mitgefühl, Trauma und Anteilnahme. Ich habe erlebt, was Kriminalität, Armut, Gewalt, Drogen, Alkohol, Ausgrenzung und ständige Negativität bei Kindern und Jugendlichen anrichten. 

Der Sohn unseres Nachbarn war drogenabhängig. Der Vater zwang ihn in einen kalten Entzug. Sie hatten Matratzen an die Wände gestellt, aber es nützte nichts, tagelang hörten wir den Jungen bis auf die Straße schreien. Wie verzweifelt muss eine Familie sein, die ihren Sohn zu so etwas zwingt und sich keine Hilfe von außen suchen kann? Er war so ein lieber Kerl. Ein paar Monate lang war er clean, dann ist er wieder in die Drogenabhängigkeit gerutscht. Später ist er bei einem Autounfall gestorben. 

Viele unserer Nachbarn, Verwandten, Freunde sprachen kein Deutsch. Sobald ich es im Kindergarten gelernt hatte, begleitete ich sie zu Arztterminen, zur Post, half ihnen mit Rechnungen und Briefen. Es tat weh, die Erwachsenen so hilflos zu sehen. Heute frage ich mich: Warum unterstützte man sie nicht, warum tat man nicht alles, ihr Leben zu erleichtern? Stattdessen wurden sie niedergemacht, verspottet, beschämt, beschuldigt, weil sie nicht wussten, wie man Deutsch spricht. 

Welch grauenhaft schlechte Planung eines Einwanderungsprogramms. Millionen Menschen wurden angeworben, in Deutschland zu arbeiten, doch ihre elementarsten Bedürfnisse wurden ignoriert. Sie sind vielfältig traumatisiert, und dieses Trauma wirkt bis heute, es setzt sich fort in die nächste Generation, auch die leidet darunter – unter dem Einwanderungstrauma ihrer Eltern. 

Nach dem Abitur bin ich in die USA ausgewandert. Dort habe ich mein Glück gefunden. Dort habe ich erlebt, was eine offene Gesellschaft ist, wie freundlich und wohlwollend Neuankömmlinge unterstützt werden. Dort gab es keine Gouvernante, die sich vor die Treppe der Bücherei stellte und sagte: „Hier darfst du nicht hinauf.“ 

Ich muss es so deutlich sagen: Jenseits meiner Familie waren meine Kindheit und Jugend in Deutschland ein Albtraum. Eine Zeit voller Traumata, Ausgrenzung und Unterdrückung. 

Als ich Deutschland verließ, hatte ich das Gefühl, an der Negativität der Mitmenschen und am deutschen Weltbild zu ersticken. Ich hasste es, ständig gesagt zu bekommen, wer ich zu sein habe. Dass ich ein Gast sei und „geduldet“ werde. Man ist aber nicht Gast in einem Land, in dem man geboren und aufgewachsen ist. 
Welch grauenhaft schlechte Planung eines Einwanderungsprogramms. Millionen Menschen wurden angeworben, in Deutschland zu arbeiten, doch ihre elementarsten Bedürfnisse wurden ignoriert. Sie sind vielfältig traumatisiert, und dieses Trauma wirkt bis heute.
Der deutsche Rassismus war allgegenwärtig. Ich fuhr mit der U-Bahn, da kam eine türkische Frau mit einem Kinderwagen herein, bedeckt gekleidet und an der Hand ein kleines Kind. Eine stressige Situation, aber anstatt ihr zu helfen, fingen zwei ältere Frauen an, über sie zu lästern. Sinngemäß: Guck sie dir an, erst greifen sie hier Sozialhilfe ab, und dann machen sie ein Kind nach dem nächsten.

Ich ertrug es nicht länger, drehte mich um und mischte mich ein. „Hallo? Ich bin auch Türkin. Wie reden Sie über diese Frau?“ 

Sie schauten erschrocken. Und sagten: „Aber Sie sind doch anders.“ 

Weil ich eine gute Schülerin war, durfte ich nach der Grundschule ein Gymnasium in einem „besseren“ Teil Kölns besuchen. Auch das war keine leichte Zeit. Die Lehrer wussten wenig über die Lernbedürfnisse eines Migrantenkindes aus einer marginalisierten Gemeinschaft. Ich war eine der Ersten in meiner Gemeinschaft, die ein Gymnasium besuchten, ich hatte eine Barriere durchbrochen. Doch erst viel später – als Erwachsene, die in einer dritten Kultur lebte – lernte ich, diese Leistung wertzuschätzen und mich dafür zu lieben. Welch einen Unterschied hätten damals Lob, Ermutigung, eine besondere Förderung gemacht. 

Mit 13 fing ich an, Reklame zu verteilen. Wobei ich den Job nur bekam, weil sich eine deutsche Freundin beworben hatte und wir uns die Arbeit teilten; ich selbst hatte von dort keine Antwort bekommen. Mit 16 half ich im Schuhladen aus, mit 18 fing ich an, neben der Schule in einem Cateringservice zu jobben. Fleißig zu sein ist etwas, worauf meine Eltern immer stolz waren, auch ich habe es verinnerlicht. 

Ich habe mich oft gefragt, wie es meine Eltern geschafft haben, in Deutschland ohne Sprachkenntnisse und ohne Ausbildung zu überleben, während sie eine Familie großzogen. Ich bewundere ihre Geduld, Belastbarkeit und Stärke, denn sie haben trotz allem nie ihre Freundlichkeit aufgegeben. Sie hörten nie auf, andere zu lieben, ihnen zu helfen und ihnen etwas zurückzugeben. 

Mein Vater arbeitete bei Ford, er war großherzig und hilfsbereit, er hat mir das Rechnen mit Schrauben beigebracht. Meine Mutter arbeitete in einer Großküche. Unsere einzige Freizeitbeschäftigung waren Ausflüge zum Flohmarkt. Aber nicht, um herumzuschlendern und schöne Sachen zu kaufen, sondern um möglichst günstig Gastgeschenke für unsere Verwandtschaft zu besorgen. Für die Fahrt in die Heimat im Sommer. Darauf lebten wir hin. 

Wenn die großen Ferien begannen, packten meine Eltern unseren Minibus voll, und wir machten uns auf den Weg in die Türkei. In Deutschland waren meine Eltern unsichtbar, wieder in ihrem Dorf bei Istanbul verwandelten sie sich in Helden. Von weit her kamen die Leute, um mit ihnen zu reden, um Neues zu erfahren, um zu hören, wie es zugehe in Deutschland. Meine Eltern verteilten ihre Geschenke: Kleider, die sie bei kirchlichen Stellen gesammelt hatten, Shampoo, Schokolade, Hygieneartikel für Frauen. Ja, die gab es damals nicht in den Dörfern, meine Mutter verteilte sie paketweise. 

Über Kindererziehung hat sie mit den Frauen im Dorf geredet, über weibliche Hygiene, die Vorteile von Muttermilch. Einmal stand eine Bettlerfamilie bei uns an der Tür, fahrendes Volk, die Kinder hungrig und verdreckt. Kurzerhand hat meine Mutter sie in die Badewanne gesteckt, abgeschrubbt, frisch angezogen und ihnen eine Tafel Schokolade in die Hand gedrückt. Sie kamen als Habenichtse und gingen als polierte Kinder. Das war typisch für meine Eltern: Sie versuchten immer, alles zum Besseren zu wenden. 

Viele Jahre später, ich besuchte mein Dorf, zog eine Nachbarin eine orangefarbene Schere aus der Schublade. Meine Eltern hatten sie ihr geschenkt. Das war Jahrzehnte her. Sie ehrte und achtete die Schere. Denn es war mehr als nur eine Schere. 

Schon während der Schulzeit war ich durch Europa gereist und hatte das als Befreiung erlebt: Die Frage, wer ich sei, wurde bedeutungslos. Nach dem Abitur ging ich als Au-Pair nach Washington, D.C. Meine Gasteltern arbeiteten bei der Armee, er im Pentagon, sie im Weißen Haus. Wir wohnten in einem großen Haus in der Vorstadt, die Nachbarn grüßten mich vom ersten Tag an. In Chorweiler musste man misstrauisch sein, wenn einen jemand grüßte – was weiß diese Person über mich, was will sie von mir? Hier wussten im Handumdrehen alle, wer ich war, und interessierten sich für mich. Voraussetzungslos, ohne Stereotype und Misstrauen. 

Konnte ich in den USA studieren? Ich fuhr zu einer Uni, um mich zu erkundigen, und wurde von einer Mitarbeiterin des Student Counseling Center an die Hand genommen. Schritt für Schritt führte sie mich herum und erklärte mir die Programme für „underprivileged youth“. 

Einige Monate später, zurück in Deutschland, fuhr ich zur Uni Bonn. Es war exakt dieselbe Situation: Ich war fremd in der Uni, ich brauchte Unterstützung. Mit dem Unterschied, dass ich hier keine bekam. Die Mitarbeiterin der Studienberatung sagte nur schnippisch: „Sie haben doch Abitur“, ich müsse schon selbst herausfinden, wie ich mich einschreibe. Und wandte sich ab. Nach einem Jahr Amerika war das wie eine Ohrfeige. 

Meine Reaktion: Ihr könnt mich mal! Ich gehe in ein Land, in dem ich mehr geschätzt werde. Noch am selben Tag begann ich, mich bei der amerikanischen Botschaft für ein Studentenvisum zu bewerben. 

Die Auswanderung war die beste Entscheidung meines Lebens: mich von Deutschland und der Türkei zu distanzieren und eine dritte Kultur zu wählen. Nie hätte ich in Deutschland den Erfolg gehabt, den ich in den USA habe. Ich wäre gescheitert an den deutschen Vorurteilen. Anders gesagt: I was set up for failure, not for success. Mir scheint, in Deutschland erhalten die Migranten in großer Mehrheit einen Stempel: ja nicht erfolgreich zu sein. 

Während des Studiums jobbte ich in Restaurants und Hotels, nach dem Bachelorabschluss heuerte ich bei Oracle Micros an und reiste durch die USA und Kanada, um Datenbanken in Luxushotels zu implementieren. Später war ich Projektmanagerin bei Lockheed Martin, danach arbeitete ich für den amerikanischen Kongress und unterstützte die Abgeordneten, ihre Arbeitsabläufe zu digitalisieren. 

Parallel dazu machte ich meinen Master in Wirtschaftspsychologie an der George Mason University, den ich mit summa cum laude abschloss. Heute arbeite ich in einer IT-Firma für Program & Project Management und leite ein Team von 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Daneben treibe ich meine Promotion an der Antioch University in „Leadership and Change“ voran. 

Als ich gefragt wurde, für dieses Buch einen Beitrag zu schreiben, habe ich mich erstmals mit dem deutschen Grundgesetz beschäftigt. Die amerikanische Verfassung kannte ich gut, das Grundgesetz hatte ich nie gelesen. Erst mal war ich beeindruckt: Verglichen mit der US-Verfassung, die sich explizit auf weiße Männer konzentriert, ist das Grundgesetz moderner. Doch auch hier: Es richtet sich an das „Deutsche Volk“. Wer bitte ist damit gemeint? Was ist mit den vielen in Deutschland lebenden Gemeinschaften? 

Und so schön all die Grundrechte auch klingen: Sie haben nichts gemein mit den Erfahrungen meiner Kindheit. 

Während meiner Reisen bin ich immer wieder Menschen begegnet, die nie in Deutschland gelebt haben, aber die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen – weil ihre Vorfahren Deutsche waren und sie somit auch. Für ein in Deutschland geborenes Gastarbeiterkind ist das ein Schlag ins Gesicht. Es hat mich daran erinnert, dass wir Deutschtürken immer Fremde bleiben werden, egal, wie gut ausgebildet, sprachlich versiert oder integriert wir sind. Die Abstammung liegt den Deutschen im Blut. Bis heute. Wird sich das jemals ändern? 

Ich hingegen verlor meine „unbefristete Aufenthaltserlaubnis“, weil ich zu lange außerhalb Deutschlands gewesen war, und konnte somit nach dem Studium nicht mehr zurück nach Deutschland. Na und? Ohnehin blieb ich lieber in Amerika und baute mir hier mein neues Leben auf. 

Germany’s loss, America’s gain. Ich schaute nie wieder zurück.   
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