Ich wechselte zu einer Landmaschinenfirma, ein Gewerkschaftskollege hatte mir die Stelle vermittelt. Es war eine andere Welt. Der Personalchef war ein wunderbarer, humaner Mensch. Der Meister begrüßte dich jeden Morgen per Handschlag, montags erkundigte er sich, wie du das Wochenende verbracht hattest. Man schaute einander freundlich in die Augen, anstatt sich wie in der Gießerei missmutig, gestresst und überarbeitet wegzuducken.
Ich wurde Elektroschweißer, zunächst sechs Wochen zur Probe, wurde ein Vierteljahr angelernt, bekam guten Tariflohn und besserte ihn auf durch Akkord. So kam ich allmählich in Deutschland an.
1976 besuchte ich erstmals ein einwöchiges Seminar der IG Metall. Lernte, was Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie bedeuten. Es war eine Lektion in Sachen Demokratie. Ich lernte schnell, dass die Kernnormen der Demokratie – Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – noch lange keine gelebte Wirklichkeit sind und dass selbst in den besten Demokratien nur diejenigen ihre Interessen durchsetzen können, die wegen ihrer sozialen Herkunft privilegiert sind. Es sei denn, sie organisierten sich und handelten solidarisch als Kollektiv.
Auf den Seminaren knüpfte ich viele Kontakte. Einige der Referenten wurden zu Freunden. Allen voran Dieter Würch, ein begnadeter Handwerker, Orgelbauer und Buchhändler, der einst als Automechaniker begonnen hatte, dann Philosophie und Geschichte in Tübingen studierte und dazu Bildungsseminare für die IG Metall gab. Wir verstanden uns auf Anhieb. Im Jahr darauf machten wir zusammen Urlaub in der Türkei, ich zeigte ihm meine Heimat. Oder zeigte er sie mir? In einem fort verblüffte er mich mit seinem Wissen über meine Provinz Antakya, das antike Antiochia, berichtete von den alten Griechen, den Römern, den Urchristen, den Kreuzzügen. Zu jeder Ruine zwischen Antiochia und Troja konnte er mir eine Geschichte erzählen.
Stundenlang diskutierten wir über politische Philosophie. Ich lernte von ihm, dass es eine undogmatische Linke gibt, die Freiheit und Gleichheit zusammen denkt, die nicht in die autoritären Fallen des Parteikommunismus tappt, sondern an emanzipatorisch-normativen Werten festhält. Er war es, der mir Adorno, Benjamin und Marcuse zur Lektüre empfahl, mich bekannt machte mit Lukács, Bloch und Arendt, der mir antikolonialistische Denker wie Ceasere und Fanon entdecken half.
Eines Tages las ich „Minima Moralia“, die Aphorismensammlung von Adorno. Las darin den Halbsatz: „Ohne Angst verschieden sein.“ Das sollte mein kategorischer Imperativ werden, der Dreh- und Angelpunkt meiner politischen Arbeit. Jenseits von Glaube, Hautfarbe, Herkunft oder sonst einer Verschiedenheit frei und gleich und human miteinander zu leben – dafür werde ich immer streiten.
Auf einem anderen Seminar lernte ich Reinhard Kiel kennen, der bis heute einer meiner besten Freunde ist, auch er ein warmherziger und idealistischer Mensch. Er bestärkte mich darin, einen unerhörten Plan zu verfolgen: zu studieren! So abenteuerlich dieser Gedanke war, so sehr elektrisierte er mich. Reinhard Kiel zeigte mir auch, wie man ein Stipendium bei der Hans-Böckler-Stiftung beantragte. Ich bekam es. Er half mir, mich an der Uni zu bewerben.
Im Oktober 1978 zog ich nach Hamburg, um an der Hochschule für Wirtschaft und Politik mein Studium der Soziologie aufzunehmen, mit den Nebenfächern Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre. Weil ich kein deutsches Abitur hatte, musste ich eine mehrtägige Aufnahmeprüfung machen. Ich bestand sie. Doch ich merkte bald, dass ich viel langsamer lernte als meine Kommilitonen. Kein Wunder, schließlich hatte ich in meiner Kindheit und Jugend nie zu lernen gelernt.
So langsam ich war, so ehrgeizig war ich. Ich wollte nie wieder zurück in eine Gießerei, ich wollte meine Förderer nicht enttäuschen, ich wollte diese Chance nutzen, es war eine Frage der Würde, dieses Studium zu absolvieren. Am Ende eines jeden Semesters schaute ich, was im nächsten Halbjahr auf dem Programm stand, besuchte die Professorinnen und Professoren in ihren Sprechstunden, informierte sie über mein langsameres Lerntempo und bat sie, mir zur Vorbereitung Lektüre zu empfehlen. Sie waren begeistert und unterstützten mich nach Kräften. Wegen des Stipendiums musste ich in den Ferien nicht arbeiten – und las mich gründlich ein in den kommenden Stoff.
Und sonst? Ging ich auf Konzerte. Traf mich zu Leserunden. Engagierte ich mich für die IG Metall. Gründete eine internationale Studentengruppe und wurde studentischer Fachschaftsvertreter der Soziologie.
Nach fünf Jahren war ich Diplom-Sozialwirt und Diplom-Sozialökonom und fand bald einen ersten Job: Für die Stadt Hamburg begleitete ich wissenschaftlich ein Modellprojekt, das älteren bildungsfernen Arbeitern eine Ausbildung ermöglichte. Ich sollte untersuchen, ob das möglich war. Und weiß seither: Natürlich ist es möglich, zu über 90 Prozent wurden die Ausbildungen erfolgreich abgeschlossen. Es ist nur eine Frage des Wie.
Eines Tages bekam ich Besuch. Peter Kühne kam vorbei, er war Professor an der Sozialakademie Dortmund und suchte Mitstreiter für ein Projekt des DGB-Bildungswerks. Wir hatten uns einige Jahre zuvor bei einem Urlaub kennengelernt, als einige Kommilitonen und ich uns über den Jahreswechsel ein Ferienhaus in Dänemark gemietet hatten. Er blieb einige Tage, zusammen mit seiner Frau Hildegard. Eigentlich war er katholischer Theologe, hatte dann seine kirchliche Tätigkeit als Kaplan beendet und Soziologie und Philosophie studiert, ein weltoffener, altruistischer Geist. Stundenlang unterhielten wir uns. Immer wieder sahen wir uns in den folgenden Jahren. Seine wissenschaftlich und sozialethisch fundierte Urteilskraft, sein Erfahrungshorizont und sein Eintreten für Menschenrechte hatten mich vom ersten Tag an inspiriert.
Nun lud er mich ein, mit ihm gemeinsam in einem Projekt zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zu arbeiten. Meine Frau spürte mein Interesse und bestärkte mich, Peter Kühnes Angebot anzunehmen. Also stand uns ein Umzug von der Weltstadt Hamburg nach Dortmund bevor, in die „Herzkammer der Sozialdemokratie“.
Wir machten uns an die Arbeit, ein Soziologe, eine Pädagogin, Peter Kühne und ich. Wir gaben Workshops, qualifizierten Referenten, entwickelten Modellseminare, gaben Informationsbroschüren heraus, veranstalteten eine Tagung, veröffentlichten zwei Bücher. Darüber, wie der Arbeitsmarkt funktioniert. Wie man Diskriminierung im Betrieb und Rassismus bekämpft. Wie man ethnische Vorurteile überwindet. Wie man die Teilhabe von Minderheiten in den Gremien der Gewerkschaft verbessert. Wie man die Arbeitsmarktchancen junger Menschen steigern kann.
Peter Kühne war für mich bis zu seinem Tod im Februar 2015 ein väterlicher Freund und bleibt für mich ein Vorbild.
Im November 1989 wechselte ich ins operative Geschäft. Ich heuerte als Schwerpunktsekretär – und ab 1996 als Geschäftsführer – bei der IG Metall Düsseldorf an. Ab 2006 leitete ich die neu fusionierte Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss.
Gerade in den ersten Jahren meiner hauptamtlichen Tätigkeit bekam ich einigen Gegenwind. Manche Arbeitgeber und konservative Betriebsräte beschwerten sich über meine höflich-geduldige, in der Sache aber harte Verhandlungsführung. Sie verunglimpften mich als praxisfremden linken Theoretiker, der noch nie ein Werkzeug in der Hand gehalten habe.
Das stimmte nun gar nicht. Ich wusste nur zu gut, was harte Arbeit ist, niemand konnte mir etwas vormachen oder mich von oben herab belehren. Ja, es stimmte, ich bin ein „lesender Arbeiter“, ich durchdenke Dinge gern gründlich und versuche, bei allem Handeln, immer den Hintergrund auszuleuchten und verstehbar zu machen. Aber für mich gehen Theorie und Praxis stets Hand in Hand.
Die schlimmsten Anfeindungen erfuhr ich von drei türkischen Nationalisten, die in einem Großbetrieb als Betriebsräte etabliert waren. Sie störten sich an meiner antiautoritären und kosmopolitischen Einstellung. Sie verlangten, dass mir die Zuständigkeit für Migrationsarbeit und Antirassismus abgenommen werden sollte, und drohten mit ihrem Austritt aus der IG Metall.
Peter Birk, der damalige IG-Metall-Geschäftsführer, ließ sich davon nicht beirren. Die Austrittsdrohungen erschreckten ihn nicht im Geringsten. Im Gegenteil, sie steigerten seine Empörung dermaßen, dass er umgehend die Ortsvorstandsmitglieder informierte und zur Beratung einlud. Ihre Unterstützung war so einhellig und unmissverständlich, dass es die Dreierbande danach nie wieder wagte, mich offen anzugreifen.
Diese Konflikte hatten trotzdem ihr Gutes: Sie führten dazu, dass das kollegiale Verhältnis zwischen Peter Birk und mir noch enger wurde und sich zu einer nachhaltig guten Freundschaft entwickelte, die bis heute andauert.
Es folgten viele weitere Ämter. Bis 2017 war ich im Beirat der IG Metall, dem höchsten Gremium zwischen den Gewerkschaftstagen. Ich wurde Aufsichtsratsmitglied in drei Unternehmen und entschied mit über Investitionen, Akquisitionen, Fusionen, Abspaltungen, über die Berufung, Vertragsverlängerung oder Abberufung von Vorständen und Geschäftsführern. Handelte Sozialpläne und Firmentarifverträge in dreistelliger Millionenhöhe aus.
Jedoch konnte ich nicht darüber mitbestimmen, ob in unserem Stadtteil ein Papierkorb aufgestellt wurde, weil ich kein Deutscher war. Ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie im Deutschland des 21. Jahrhunderts! Erst vor Kurzem habe ich mich einbürgern lassen. Warum so spät? Weil das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht mein Gerechtigkeitsempfinden verletzt. Wie viele West- und Osteuropäer und wie viele „Ausländer“ aus allen Kontinenten dürfen ihren Pass behalten, wenn sie die deutsche Einbürgerung beantragen? Doch Türkinnen und Türken müssen – der populistischen, teils rassistischen Kampagne von Roland Koch sei Dank – ihre Staatsangehörigkeit aufgeben, selbst wenn sie in Deutschland aufgewachsen sind und alle Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen. Diese Ungleichbehandlung ist diskriminierend, sie empört mich zutiefst.
Einmal erlebte ich, wie ein deutscher Oberbürgermeister diese Einbürgerungspraxis öffentlich rechtfertigte. Er sagte: „Man kann nur einem Herren dienen.“ Das ist eine Haltung aus den Zeiten von Kaiser Wilhelm: Die Bürger werden zu Untertanen, die dem Staat zu dienen haben. Ich stand auf und widersprach: dass Nationalität nur eine Identität von vielen ist, dass es Menschen gibt, die mit zwei Identitäten und mehreren Sprachen aufwachsen und Heimat nur im Plural kennen, dass ich in einer Demokratie lebe und sehr wohl Rechte und Pflichten habe, jedoch keinem Herren diene.
Wenn überhaupt würde ich – wenn es ihn denn gäbe und wenn er (oder sie) auf so etwas Wert legte – dem lieben Gott dienen, und der ist garantiert weder Deutscher noch Türke.
Kurzum: Ich wünsche mir von Herzen, dass das antiquierte Einbürgerungsrecht zeitnah geändert wird!
Ich bin froh, dass Deutschland heute so ein buntes, weltoffenes Land ist. Allein in der IG-Metall-Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss hatten wir Mitglieder aus 74 Nationen, dazu etliche Menschen, die ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten angehörten. Wir haben unsere Interessen stets gemeinsam vertreten, als gleichberechtigte Kolleg:innen, solidarisch und auf Augenhöhe. Diese Vielfalt hat uns politisch gestärkt und kulturell bereichert.
Ich empfand diese Vielfalt als eine Verpflichtung, jede Form von Diskriminierung, Stigmatisierung und sachlich ungerechtfertigter Ungleichheit konsequent zu bekämpfen. Deshalb haben wir als IG Metall Düsseldorf nicht nur für faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, für Beschäftigungssicherung, gute Ausbildung und Qualifizierung oder gegen Betriebsschließungen und Massenentlassungen gekämpft. Sondern auch gegen alle Formen von Rassismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und gegen jede paternalistische Bevormundung. Deshalb haben wir antirassistische und interkulturelle Initiativen, Bündnisse und Vereine mitgegründet und unterstützt – und Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz organisiert.
Damit knüpften wir an die guten Kampagnen der IG Metall zur Gleichstellung und Teilhabe der Arbeitsmigrant:innen aus den 70er- und 80er-Jahren an. Erinnert sei an die Kampagne zur Verfestigung des Aufenthaltsstatus und insbesondere an die Forderung eines kommunalen Wahlrechts unter dem Motto: „Ein Mensch – eine Stimme. Wahlrecht ist Menschenrecht!“
Die Geschichte der Arbeitsmigrant:innen aus der Türkei, die vor 60 Jahren begann, ist auch eine Geschichte des Kampfes um bessere Entlohnung und humane Arbeitsbedingungen und zugleich eine Geschichte des Kampfes um Anerkennung und gleichberechtigte Teilhabe. Diesen solidarischen Kampf haben die türkischstämmigen Arbeitsmigrant:innen von Anfang an gemeinsam mit ihren Gewerkschaften und ihren Kolleg:innen geführt.
Heute sind über 500.000 Menschen mit Migrationshintergrund in der IG Metall organisiert, davon haben weit über 100.000 ihre Wurzeln in der Türkei. Zudem hat die kontinuierliche Gewerkschaftsarbeit mit und für Migrant:innen ein festes Fundament von mehreren Zehntausend Funktionären geschaffen, die sich für die Belange der Beschäftigten in den Betrieben engagieren. Sie engagieren sich als Vertrauensleute und Betriebsräte bei betrieblichen und bei tarifpolitischen Auseinandersetzungen. Sie sind unverzichtbar.