Nihat Öztürk

„Ohne Angst verschieden sein – das wurde mein kategorischer Imperativ“

Er schuftete in einer Eisengießerei, Bob Dylan und Dostojewski im Herzen. Dann trat er der IG Metall bei, studierte Soziologie, engagierte sich gegen Rassismus und Ausgrenzung. Und weiß, wie wichtig es ist, dass sich auch Migrant:innen gewerkschaftlich organisieren.

Nihat Öztürk, geboren am 1. Februar 1955 in Antakya, Türkei, arbeitete nach seiner Anwerbung im August 1973 als Gießereiarbeiter und Elektroschweißer in Bad Windsheim. In dieser Zeit engagierte er sich als gewerkschaftlicher Vertrauensmann. Von 1978 bis 1983 studierte er Soziologie in Hamburg, danach war er wissenschaftlicher Angestellter im Bereich der beruflichen und politischen Bildung. Ab 1989 arbeitete er hauptamtlich für die IG Metall Düsseldorf, zuletzt als Geschäftsführer. Er ist Mitgründer mehrerer antirassistischer und interkultureller Initiativen, darunter Mosaik e.V., der „Düsseldorfer Appell“ und „Respekt und Mut“. Als Autor und Mitherausgeber hat er wiederholt zu den Themen Arbeitsmigration, Migrationspolitik und Rassismus publiziert
Die Arbeit in der Gießerei war ein Schock. Wenn die Motorblöcke aus dem Ofen kamen, waren sie glühend heiß, wir mussten sie mit Hämmern bearbeiten, um den Sand und Staub der Gussform abzuschlagen. Waren die Motorblöcke abgekühlt, rückten wir ihnen mit einer Flex zu Leibe, um Ecken und Grate abzuschleifen. Fortwährend lag heißer Staub in der Luft.

Wir bekamen Schutzbrillen, aber keine Atemmasken. Noch in den Ferien dauerte es tagelang, bis man keinen Ruß mehr aus der Nase schnupfte. Mies bezahlt war die Arbeit zudem, und in einem fort schnauzten einen die Vorarbeiter an, autoritär und schneidig wie Feldwebel. Schon nach wenigen Wochen wusste ich: Ich muss hier raus. 

Und dabei war ich harte Arbeit gewöhnt. Ich bin aufgewachsen in Antakya, an der Grenze zu Syrien. Seit ich elf war, hatte ich in den Sommerferien auf Baumwollplantagen gearbeitet, um etwas für die Familie dazuzuverdienen. Die Sommer dort sind unglaublich heiß und schwül. Morgens um fünf wurden wir geweckt und marschierten los zu den Feldern, hackten oder ernteten den ganzen Tag, unterbrochen von einigen Pausen, ehe wir uns gegen 17 Uhr völlig erschöpft zurück zum Camp schleppten. Wir wuschen uns, aßen, legten uns schlafen in die Zelte, sechs Tage die Woche schufteten wir, nur sonntags hatten wir frei und badeten im Fluss. 

Von 1918 bis 1938 war die Gegend französisches Mandatsgebiet, erst im Jahr darauf wurde sie der Türkei zugeschlagen. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Bildungsinfrastruktur dem Rest des Landes entsprach. Meine Eltern hatten nie eine Schule besucht, auch meine ältere Schwester nicht. Zum Glück eröffnete gerade, als ich sechs wurde, im Nachbardorf eine Schule. Weil es der erste Jahrgang war, waren die Klassen bunt gemischt, manche Mitschüler waren doppelt so alt. 

Unser erster Lehrer war furchtbar. Er genoss es, uns zu quälen, noch die Kleinsten schlug er bei lächerlichen Vergehen mit dem Stock. Immer wieder kamen wir verheult nach Hause. Unsere Väter beschwerten sich und warnten den Lehrer, doch es nutzte nichts. Eines Tages halfen sie sich selbst: Sie schnappten ihn sich und verprügelten ihn dermaßen, dass er mehrere Tage ins Krankenhaus musste, drohten ihm, er möge uns ja nicht noch einmal anfassen, sonst garantierten sie für nichts. Einige Wochen später wurde er versetzt. 

Die Lehrerin, die ihm folgte, war das genaue Gegenteil: liebevoll und wertschätzend. Sie kümmerte sich um uns wie eine ältere Schwester. Sie weckte in mir die Lust zum Lesen und schenkte mir mein erstes Buch. Bald war ich ein eifriger Leser. Ein Lehrer auf der Oberschule gab mir regelmäßig sozialkritische Romane und Kolumnen. Ein Onkel arbeitete als Schreiber in einem Notariat, er schenkte mir „Die Lilie im Tal“ von Honoré de Balzac. Als Nächstes las ich „Die Sünde des Abbé Mouret“ von Émile Zola, und ab da las ich eigentlich nur noch. Was sollte man auch sonst machen in unserer sonnendurchglühten Gegend? Ich fuhr in die Stadtbibliothek, lieh mir Stendhal, Flaubert und Hugo, Dostojewski und Zola aus. Scheiterte an Goethes „Faust“, verschlang aber den „Werther“. 

Und ich hörte Musik. Viel Musik. Im Staatssender TRT spielten sie meistens Volkslieder und noch häufiger klassische türkische Musik, aber aus Syrien drang Radio Monte Carlo herüber, ein arabischsprachiger Sender aus Monaco, und so lernte ich Jazz, Blues, Rock, Folk und Chansons kennen. Hörte Hendrix, Joplin und die Stones, verehrte Joan Baez und Bob Dylan. Fast ein Dutzend Mal würde ich die beiden später live auf Bühnen sehen. 

1966 ging mein Vater nach Deutschland. Er war Tagelöhner und später Vorarbeiter auf den Plantagen und in den Ölmühlen gewesen. Jeder Quadratmeter unseres Gartens war bepflanzt, um mich und meine sieben Geschwister durchzubringen. Er entschied, für einige Jahre nach Deutschland zu gehen, damit wir es besser haben.  

Bald drängte es auch mich hinaus in die Welt. Ich wollte raus, etwas erleben, etwas erreichen. Mit 17 besuchte ich meinen Vater mit einem Touristenvisum und erkundigte mich, wo ich in Deutschland eine Ausbildung machen konnte. Es war unmöglich. Es gab weder Deutsch- noch Integrationskurse zu jener Zeit, niemand kümmerte sich um die „Gastarbeiter“ und ihre Angehörigen. Beim Goethe-Institut klopfte ich an, doch die Deutschkurse waren unerschwinglich. Es gab zunächst nur eine Chance, nach Deutschland zu kommen: in der Fabrik zu arbeiten. Dafür musste ich in die Türkei zurück und mich anwerben lassen. 

Und so stieg ich im August 1973 in Istanbul in den Zug nach Norden, gerade 18 geworden. Mein Ziel: das idyllisch gelegene, mittelfränkische Bad Windsheim, jene Stadt, in der auch mein Vater arbeitete. Ich begann meine Arbeit in der Eisengießerei. Drosch ein auf die Motorblöcke, schluckte den heißen Staub, Dylan und Dostojewski im Herzen. Und wusste – ich wollte von hier weg. 

Es dauerte acht Monate, bis ich eine andere Welt kennenlernte, die Welt des Tariflohns und der fairen Arbeitsbedingungen. An einem Aprilsonntag lud die IG Metall Fürth zu einer Informationsveranstaltung für türkischstämmige Arbeiter ein. Über 100 Kollegen aus drei Metallbetrieben kamen. Wir trafen uns im Saal eines Restaurants, und dann erklärte uns Yilmaz Karahasan, damals im IG-Metall-Vorstand für türkischstämmige Arbeitnehmer zuständig, was ein Tarifvertrag ist, was wir verdienen müssen, unter welchen Bedingungen wir arbeiten sollen, dass wir die gleichen Rechte haben wie die deutschen Arbeiter. Dass wir für diese Rechte kämpfen müssen. Erklärte, wie wir gewerkschaftliche Strukturen aufbauen können. Lud uns ein, der Gewerkschaft beizutreten. 

Für mich war es eine Zäsur. Einer dieser Aha-Momente, von denen es nur wenige im Leben gibt, die deinem Leben eine neue Richtung geben. Noch am selben Tag trat ich der IG Metall bei. 

Wenig später wurde ich Vertrauensmann der Gewerkschaft in „meiner“ Eisengießerei. Ein Vertrauensmann ist das Bindeglied zu den Beschäftigten. Er soll helfen, durch Mitgliederanwerbung gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen. Ich sprach meine türkischstämmigen Kollegen an, klärte sie auf, half ihnen beim Ausfüllen des Beitrittsformulars. Ich muss überzeugend gewesen sein: Binnen weniger Wochen waren sämtliche türkischstämmige Arbeiter der IG Metall beigetreten. Bis auf zwei türkische Rechtsextremisten, die jede Gewerkschaft für kommunistisches „Teufelszeug“ hielten. Etliche griechische, italienische und spanische Kollegen nahm ich mit in die Gewerkschaft auf – und musste mir dann schleunigst einen neuen Job suchen. 

Ich wusste, dass die Firmenleitung meinen befristeten Vertrag nicht verlängern würde. Es war das Jahr 1974, nach der Ölkrise lahmte die Wirtschaft, wer als „Gastarbeiter“ seinen Job verlor, riskierte, in die Heimat abgeschoben zu werden, weil automatisch seine Aufenthaltserlaubnis erlosch. Hunderttausende waren in jenen Jahren davon betroffen. 
Am Ende eines jeden Semesters schaute ich, was im nächsten Halbjahr auf dem Programm stand, besuchte die Professorinnen und Professoren in ihren Sprechstunden und informierte sie über mein langsameres Lerntempo.
Ich wechselte zu einer Landmaschinenfirma, ein Gewerkschaftskollege hatte mir die Stelle vermittelt. Es war eine andere Welt. Der Personalchef war ein wunderbarer, humaner Mensch. Der Meister begrüßte dich jeden Morgen per Handschlag, montags erkundigte er sich, wie du das Wochenende verbracht hattest. Man schaute einander freundlich in die Augen, anstatt sich wie in der Gießerei missmutig, gestresst und überarbeitet wegzuducken.

Ich wurde Elektroschweißer, zunächst sechs Wochen zur Probe, wurde ein Vierteljahr angelernt, bekam guten Tariflohn und besserte ihn auf durch Akkord. So kam ich allmählich in Deutschland an. 

1976 besuchte ich erstmals ein einwöchiges Seminar der IG Metall. Lernte, was Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie bedeuten. Es war eine Lektion in Sachen Demokratie. Ich lernte schnell, dass die Kernnormen der Demokratie – Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – noch lange keine gelebte Wirklichkeit sind und dass selbst in den besten Demokratien nur diejenigen ihre Interessen durchsetzen können, die wegen ihrer sozialen Herkunft privilegiert sind. Es sei denn, sie organisierten sich und handelten solidarisch als Kollektiv. 

Auf den Seminaren knüpfte ich viele Kontakte. Einige der Referenten wurden zu Freunden. Allen voran Dieter Würch, ein begnadeter Handwerker, Orgelbauer und Buchhändler, der einst als Automechaniker begonnen hatte, dann Philosophie und Geschichte in Tübingen studierte und dazu Bildungsseminare für die IG Metall gab. Wir verstanden uns auf Anhieb. Im Jahr darauf machten wir zusammen Urlaub in der Türkei, ich zeigte ihm meine Heimat. Oder zeigte er sie mir? In einem fort verblüffte er mich mit seinem Wissen über meine Provinz Antakya, das antike Antiochia, berichtete von den alten Griechen, den Römern, den Urchristen, den Kreuzzügen. Zu jeder Ruine zwischen Antiochia und Troja konnte er mir eine Geschichte erzählen. 

Stundenlang diskutierten wir über politische Philosophie. Ich lernte von ihm, dass es eine undogmatische Linke gibt, die Freiheit und Gleichheit zusammen denkt, die nicht in die autoritären Fallen des Parteikommunismus tappt, sondern an emanzipatorisch-normativen Werten festhält. Er war es, der mir Adorno, Benjamin und Marcuse zur Lektüre empfahl, mich bekannt machte mit Lukács, Bloch und Arendt, der mir antikolonialistische Denker wie Ceasere und Fanon entdecken half. 

Eines Tages las ich „Minima Moralia“, die Aphorismensammlung von Adorno. Las darin den Halbsatz: „Ohne Angst verschieden sein.“ Das sollte mein kategorischer Imperativ werden, der Dreh- und Angelpunkt meiner politischen Arbeit. Jenseits von Glaube, Hautfarbe, Herkunft oder sonst einer Verschiedenheit frei und gleich und human miteinander zu leben – dafür werde ich immer streiten. 

Auf einem anderen Seminar lernte ich Reinhard Kiel kennen, der bis heute einer meiner besten Freunde ist, auch er ein warmherziger und idealistischer Mensch. Er bestärkte mich darin, einen unerhörten Plan zu verfolgen: zu studieren! So abenteuerlich dieser Gedanke war, so sehr elektrisierte er mich. Reinhard Kiel zeigte mir auch, wie man ein Stipendium bei der Hans-Böckler-Stiftung beantragte. Ich bekam es. Er half mir, mich an der Uni zu bewerben. 

Im Oktober 1978 zog ich nach Hamburg, um an der Hochschule für Wirtschaft und Politik mein Studium der Soziologie aufzunehmen, mit den Nebenfächern Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre. Weil ich kein deutsches Abitur hatte, musste ich eine mehrtägige Aufnahmeprüfung machen. Ich bestand sie. Doch ich merkte bald, dass ich viel langsamer lernte als meine Kommilitonen. Kein Wunder, schließlich hatte ich in meiner Kindheit und Jugend nie zu lernen gelernt. 

So langsam ich war, so ehrgeizig war ich. Ich wollte nie wieder zurück in eine Gießerei, ich wollte meine Förderer nicht enttäuschen, ich wollte diese Chance nutzen, es war eine Frage der Würde, dieses Studium zu absolvieren. Am Ende eines jeden Semesters schaute ich, was im nächsten Halbjahr auf dem Programm stand, besuchte die Professorinnen und Professoren in ihren Sprechstunden, informierte sie über mein langsameres Lerntempo und bat sie, mir zur Vorbereitung Lektüre zu empfehlen. Sie waren begeistert und unterstützten mich nach Kräften. Wegen des Stipendiums musste ich in den Ferien nicht arbeiten – und las mich gründlich ein in den kommenden Stoff. 

Und sonst? Ging ich auf Konzerte. Traf mich zu Leserunden. Engagierte ich mich für die IG Metall. Gründete eine internationale Studentengruppe und wurde studentischer Fachschaftsvertreter der Soziologie. 

Nach fünf Jahren war ich Diplom-Sozialwirt und Diplom-Sozialökonom und fand bald einen ersten Job: Für die Stadt Hamburg begleitete ich wissenschaftlich ein Modellprojekt, das älteren bildungsfernen Arbeitern eine Ausbildung ermöglichte. Ich sollte untersuchen, ob das möglich war. Und weiß seither: Natürlich ist es möglich, zu über 90 Prozent wurden die Ausbildungen erfolgreich abgeschlossen. Es ist nur eine Frage des Wie. 

Eines Tages bekam ich Besuch. Peter Kühne kam vorbei, er war Professor an der Sozialakademie Dortmund und suchte Mitstreiter für ein Projekt des DGB-Bildungswerks. Wir hatten uns einige Jahre zuvor bei einem Urlaub kennengelernt, als einige Kommilitonen und ich uns über den Jahreswechsel ein Ferienhaus in Dänemark gemietet hatten. Er blieb einige Tage, zusammen mit seiner Frau Hildegard. Eigentlich war er katholischer Theologe, hatte dann seine kirchliche Tätigkeit als Kaplan beendet und Soziologie und Philosophie studiert, ein weltoffener, altruistischer Geist. Stundenlang unterhielten wir uns. Immer wieder sahen wir uns in den folgenden Jahren. Seine wissenschaftlich und sozialethisch fundierte Urteilskraft, sein Erfahrungshorizont und sein Eintreten für Menschenrechte hatten mich vom ersten Tag an inspiriert. 

Nun lud er mich ein, mit ihm gemeinsam in einem Projekt zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zu arbeiten. Meine Frau spürte mein Interesse und bestärkte mich, Peter Kühnes Angebot anzunehmen. Also stand uns ein Umzug von der Weltstadt Hamburg nach Dortmund bevor, in die „Herzkammer der Sozialdemokratie“. 

Wir machten uns an die Arbeit, ein Soziologe, eine Pädagogin, Peter Kühne und ich. Wir gaben Workshops, qualifizierten Referenten, entwickelten Modellseminare, gaben Informationsbroschüren heraus, veranstalteten eine Tagung, veröffentlichten zwei Bücher. Darüber, wie der Arbeitsmarkt funktioniert. Wie man Diskriminierung im Betrieb und Rassismus bekämpft. Wie man ethnische Vorurteile überwindet. Wie man die Teilhabe von Minderheiten in den Gremien der Gewerkschaft verbessert. Wie man die Arbeitsmarktchancen junger Menschen steigern kann. 

Peter Kühne war für mich bis zu seinem Tod im Februar 2015 ein väterlicher Freund und bleibt für mich ein Vorbild. 

Im November 1989 wechselte ich ins operative Geschäft. Ich heuerte als Schwerpunktsekretär – und ab 1996 als Geschäftsführer – bei der IG Metall Düsseldorf an. Ab 2006 leitete ich die neu fusionierte Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss. 

Gerade in den ersten Jahren meiner hauptamtlichen Tätigkeit bekam ich einigen Gegenwind. Manche Arbeitgeber und konservative Betriebsräte beschwerten sich über meine höflich-geduldige, in der Sache aber harte Verhandlungsführung. Sie verunglimpften mich als praxisfremden linken Theoretiker, der noch nie ein Werkzeug in der Hand gehalten habe. 

Das stimmte nun gar nicht. Ich wusste nur zu gut, was harte Arbeit ist, niemand konnte mir etwas vormachen oder mich von oben herab belehren. Ja, es stimmte, ich bin ein „lesender Arbeiter“, ich durchdenke Dinge gern gründlich und versuche, bei allem Handeln, immer den Hintergrund auszuleuchten und verstehbar zu machen. Aber für mich gehen Theorie und Praxis stets Hand in Hand. 

Die schlimmsten Anfeindungen erfuhr ich von drei türkischen Nationalisten, die in einem Großbetrieb als Betriebsräte etabliert waren. Sie störten sich an meiner antiautoritären und kosmopolitischen Einstellung. Sie verlangten, dass mir die Zuständigkeit für Migrationsarbeit und Antirassismus abgenommen werden sollte, und drohten mit ihrem Austritt aus der IG Metall. 

Peter Birk, der damalige IG-Metall-Geschäftsführer, ließ sich davon nicht beirren. Die Austrittsdrohungen erschreckten ihn nicht im Geringsten. Im Gegenteil, sie steigerten seine Empörung dermaßen, dass er umgehend die Ortsvorstandsmitglieder informierte und zur Beratung einlud. Ihre Unterstützung war so einhellig und unmissverständlich, dass es die Dreierbande danach nie wieder wagte, mich offen anzugreifen. 

Diese Konflikte hatten trotzdem ihr Gutes: Sie führten dazu, dass das kollegiale Verhältnis zwischen Peter Birk und mir noch enger wurde und sich zu einer nachhaltig guten Freundschaft entwickelte, die bis heute andauert. 

Es folgten viele weitere Ämter. Bis 2017 war ich im Beirat der IG Metall, dem höchsten Gremium zwischen den Gewerkschaftstagen. Ich wurde Aufsichtsratsmitglied in drei Unternehmen und entschied mit über Investitionen, Akquisitionen, Fusionen, Abspaltungen, über die Berufung, Vertragsverlängerung oder Abberufung von Vorständen und Geschäftsführern. Handelte Sozialpläne und Firmentarifverträge in dreistelliger Millionenhöhe aus. 

Jedoch konnte ich nicht darüber mitbestimmen, ob in unserem Stadtteil ein Papierkorb aufgestellt wurde, weil ich kein Deutscher war. Ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie im Deutschland des 21. Jahrhunderts! Erst vor Kurzem habe ich mich einbürgern lassen. Warum so spät? Weil das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht mein Gerechtigkeitsempfinden verletzt. Wie viele West- und Osteuropäer und wie viele „Ausländer“ aus allen Kontinenten dürfen ihren Pass behalten, wenn sie die deutsche Einbürgerung beantragen? Doch Türkinnen und Türken müssen – der populistischen, teils rassistischen Kampagne von Roland Koch sei Dank – ihre Staatsangehörigkeit aufgeben, selbst wenn sie in Deutschland aufgewachsen sind und alle Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen. Diese Ungleichbehandlung ist diskriminierend, sie empört mich zutiefst. 

Einmal erlebte ich, wie ein deutscher Oberbürgermeister diese Einbürgerungspraxis öffentlich rechtfertigte. Er sagte: „Man kann nur einem Herren dienen.“ Das ist eine Haltung aus den Zeiten von Kaiser Wilhelm: Die Bürger werden zu Untertanen, die dem Staat zu dienen haben. Ich stand auf und widersprach: dass Nationalität nur eine Identität von vielen ist, dass es Menschen gibt, die mit zwei Identitäten und mehreren Sprachen aufwachsen und Heimat nur im Plural kennen, dass ich in einer Demokratie lebe und sehr wohl Rechte und Pflichten habe, jedoch keinem Herren diene. 

Wenn überhaupt würde ich – wenn es ihn denn gäbe und wenn er (oder sie) auf so etwas Wert legte – dem lieben Gott dienen, und der ist garantiert weder Deutscher noch Türke. 

Kurzum: Ich wünsche mir von Herzen, dass das antiquierte Einbürgerungsrecht zeitnah geändert wird! 

Ich bin froh, dass Deutschland heute so ein buntes, weltoffenes Land ist. Allein in der IG-Metall-Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss hatten wir Mitglieder aus 74 Nationen, dazu etliche Menschen, die ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten angehörten. Wir haben unsere Interessen stets gemeinsam vertreten, als gleichberechtigte Kolleg:innen, solidarisch und auf Augenhöhe. Diese Vielfalt hat uns politisch gestärkt und kulturell bereichert. 

Ich empfand diese Vielfalt als eine Verpflichtung, jede Form von Diskriminierung, Stigmatisierung und sachlich ungerechtfertigter Ungleichheit konsequent zu bekämpfen. Deshalb haben wir als IG Metall Düsseldorf nicht nur für faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, für Beschäftigungssicherung, gute Ausbildung und Qualifizierung oder gegen Betriebsschließungen und Massenentlassungen gekämpft. Sondern auch gegen alle Formen von Rassismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und gegen jede paternalistische Bevormundung. Deshalb haben wir antirassistische und interkulturelle Initiativen, Bündnisse und Vereine mitgegründet und unterstützt – und Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz organisiert. 

Damit knüpften wir an die guten Kampagnen der IG Metall zur Gleichstellung und Teilhabe der Arbeitsmigrant:innen aus den 70er- und 80er-Jahren an. Erinnert sei an die Kampagne zur Verfestigung des Aufenthaltsstatus und insbesondere an die Forderung eines kommunalen Wahlrechts unter dem Motto: „Ein Mensch – eine Stimme. Wahlrecht ist Menschenrecht!“ 

Die Geschichte der Arbeitsmigrant:innen aus der Türkei, die vor 60 Jahren begann, ist auch eine Geschichte des Kampfes um bessere Entlohnung und humane Arbeitsbedingungen und zugleich eine Geschichte des Kampfes um Anerkennung und gleichberechtigte Teilhabe. Diesen solidarischen Kampf haben die türkischstämmigen Arbeitsmigrant:innen von Anfang an gemeinsam mit ihren Gewerkschaften und ihren Kolleg:innen geführt. 

Heute sind über 500.000 Menschen mit Migrationshintergrund in der IG Metall organisiert, davon haben weit über 100.000 ihre Wurzeln in der Türkei. Zudem hat die kontinuierliche Gewerkschaftsarbeit mit und für Migrant:innen ein festes Fundament von mehreren Zehntausend Funktionären geschaffen, die sich für die Belange der Beschäftigten in den Betrieben engagieren. Sie engagieren sich als Vertrauensleute und Betriebsräte bei betrieblichen und bei tarifpolitischen Auseinandersetzungen. Sie sind unverzichtbar. 
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