Ali Güngörmüş

„Wir haben viel erreicht. Aber wir könnten viel weiter sein“

Der Souschef ohrfeigte ihn. Und überhaupt: In seiner Jugend musste er die Zähne zusammenbeißen. Doch dann startete Ali Güngörmüş durch, bekam mit 27 Jahren seinen ersten Michelin-Stern, kochte bald im Fernsehen und betreibt heute ein Sternerestaurant in München.

Ali Güngörmüş, geboren am 15. Oktober 1976 in Pageou-Tunceli, ist Koch mit eigener Fernsehshow und der bisher einzige in der Türkei geborene deutsche Küchenchef, dessen Restaurant einen Michelin-Stern erhielt. Er ließ sich gegen den Widerstand seiner Eltern zum Koch ausbilden. Ab dem Jahr 2000 war er Küchenchef im Szenerestaurant Lenbach in München. 2005 eröffnete er in Hamburg-Othmarschen das Restaurant Le Canard Nouveau. Nur ein Jahr später wurde sein Restaurant mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. 2014 eröffnete Güngörmüş in München das Restaurant Pageou – benannt nach dem Dorf in Ostanatolien, in dem er zur Welt gekommen ist und die ersten zehn Jahre seines Lebens verbracht hat.
Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an den Geschmack von reifen Feigen. Kamen wir aus der Schule, kletterten wir auf den Feigenbaum hinter dem Haus und holten uns die prallen Früchte herunter. Sie waren am besten, wenn sie sich weich anfühlten. Ganz vorsichtig öffneten wir die lilafarbene Haut und aßen das rote Fruchtfleisch, noch warm von der Sonne. Diesen Geschmack werde ich nie vergessen. Ich habe ihn für immer in meinem Aromengedächtnis gespeichert.

Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an die prallen, goldgelben Aprikosen, die meine Mutter auf Strohmatten in der Sonne trocknete. An die grünen Mandeln, die wir mit den Zähnen öffneten, um zu dem köstlichen weißen Kern vorzustoßen. An die feinen Erbsen, die wir uns frisch aus der Schale pulten. An die Kirschen vom Baum. An die getrockneten Quitten im Lammragout.

Jeden Morgen backte meine Mutter Lavash, das türkische Fladenbrot. Sie nahm Mehl, Wasser, Hefe und Salz, wellte den Teig mit einem Holzstab dünn aus und backte das Brot in einer Pfanne über dem Feuer. Ofenwarmes Brot – das war unser Frühstück. Wenn die Walnüsse reif waren, rösteten wir sie in Butter an, vermischten sie mit getrockneten Aprikosen und gaben die Paste aufs Brot.

Ich habe sechs Geschwister. Die drei Mädchen schliefen in einem Bett, wir Jungs schliefen in einem anderen Bett. Wir hatten kein Spielzeug, aber wir angelten Forellen und Saiblinge, spielten Fußball, hüteten die Ziegen, melkten die Kühe, halfen im Garten, die Winter voll Schnee, im Sommer brannte die Sonne. Wir hatten wenig Geld, aber wir hatten Bäume voller Granatäpfel, Maulbeeren und Renekloden. 

Das war meine Kindheit in Pageou, einem entlegenen Dorf nahe der anatolischen Stadt Tunceli. Dort verbrachte ich die ersten zehn Jahre meines Lebens. In meiner Muttersprache Zaza bedeutet Pageou „entlegen und verlassen“. So war unser Dorf, es war eine Kindheit wie vor 100 Jahren, einfach und gut. 

Heute führe ich ein Sternerestaurant in München und trete als Koch im Fernsehen auf. Geprägt haben mich die Aromen und die Lebensfreude aus meiner Kindheit. Ich habe mein Restaurant benannt nach dem Dorf, aus dem ich stamme: Pageou.

Das Einzige, was uns damals fehlte, war der Vater. Wir waren traurig, wenn wir sahen, wie die anderen Väter von der Arbeit kamen und ihre Kinder in den Arm nahmen. Meiner hatte 1966 den Optimismus und den Mut besessen, allein nach München auszuwandern, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Dort arbeitete er als Schweißer in der Kanalisation. Im Winter ruhte die Arbeit, dann kam er für einige Wochen heim.

Was war das für ein Fest! Wir rannten ihm entgegen und balgten uns darum, wer am längsten auf seinem Schoß sitzen durfte. Er brachte Schokolade mit, lud uns ins Restaurant ein, kaufte Schuhe und Fleisch und verbrachte viel Zeit mit uns.

Als ich zehn war, nahmen die Kämpfe zwischen der Regierung und der PKK in unserer Region zu; meine Eltern beschlossen, dass es höchste Zeit sei, gemeinsam nach Deutschland auszuwandern. Ich freute mich darauf, weil die Familie nun das ganze Jahr zusammen sein würde.
Mein Bauch kribbelte vor Freude, als plötzlich die Idee vor mir stand: Ich würde mich selbstständig machen. Ich würde auf volles Risiko gehen. Ich wollte die Früchte meiner Arbeit endlich selbst ernten und mein eigener Chef sein.
Weihnachten 1986, ich war zehn, kamen wir in München an. Ich staunte über den Schnee, den Verkehr, den Weihnachtsschmuck. Und merkte gleich, dass Deutschland anders schmeckte. Am ersten Abend gab es Huhn, das Fleisch war weicher und weniger aromatisch als bei uns. Kein Wunder, kam es doch aus einem Mastbetrieb und aus der Tiefkühltruhe. Aber das wusste ich damals noch nicht.

Anfangs besuchte ich eine „Migrationsklasse“, danach ging ich auf die Hauptschule. Ich war kein guter Schüler. Ich erinnere mich an die Hilflosigkeit, wenn ich vor meinen Hausaufgaben saß und keine Ahnung hatte, was ich machen sollte – und niemanden hatte, der mir helfen konnte. Mein Vater predigte zwar: Lernt, studiert, macht was aus eurem Leben! Aber wenn die Basis fehlt, kannst du nicht stabil drauf aufbauen.

Eine Lehrerin mochte mich von Anfang an nicht. Einmal widersprach ich ihr. Sie schrie mich an: „Du gehörst nicht hierher! Du gehörst auf die Sonderschule!“ Wie gut, dass sich Simone meldete, unsere Klassensprecherin. Sie widersprach: „Ich finde es nicht in Ordnung, wie Sie Ali behandeln.“ 

Ich habe solche diskriminierenden Momente immer wieder erlebt. Ich habe sie nie persönlich genommen, im Gegenteil: Sie stachelten meinen Ehrgeiz nur noch mehr an. Äußerlich blieb ich stumm, innerlich dachte ich: Euch werde ich es zeigen!

Ja, man wird immer Menschen treffen, die einem Steine in den Weg legen. Aber wo eine Tür zugeht, geht eine andere auf. Darum rate ich jedem: Nehmt euch solche Dummheiten nicht zu Herzen, ganz gleich, von wem sie kommen. Lasst euch nicht entmutigen. Gebt nicht auf. Geht durch die nächste Tür. Bleibt neugierig, diszipliniert, respektvoll, mutig. Dann werdet ihr Erfolg haben.

Ab der achten Klasse stand Hauswirtschaftskunde auf dem Stundenplan. Während sich die anderen mit Spaghetti bewarfen, probierte ich neue Gerichte aus. Das machte mir viel Spaß, trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, Koch zu werden. Ich wusste nicht mal, dass dieser Beruf existierte, geschweige denn, dass ein Mann ihn ausüben konnte.

Bis ich im Freizeitheim, in dem ich nachmittags oft abhing, Seppi kennenlernte, eigentlich Josef. Er machte eine Ausbildung zum Koch. Eines Tages kam er auf mich zu und erzählte, dass sie bei ihm einen Lehrling suchten. Ich war neugierig und schickte eine Bewerbung.

Das Wirtshaus am Rosengarten war groß und rustikal, ein Traditionsbetrieb mit guter bayerischer Küche. Der Küchenchef, selbst noch keine 25, empfing mich; wir verstanden uns auf Anhieb. Und so bekam ich einen Vertrag und den Auftrag, mir eine Kochjacke, Kochhose und Profimesser zu kaufen, für insgesamt 400 Mark. Für mich ein kleines Vermögen. Zum Glück hatte ich neben der Schule Zeitungen ausgetragen und so viel Geld gespart.

Im September 1991, als meine Lehre als Koch begann, war ich noch keine 15 Jahre alt und noch keine 1,50 Meter groß, aber das war mir egal. Ich war froh, dass ich nun endlich etwas machen konnte. Die ersten Monate war ich in der „kalten Küche“ eingeteilt, beim Gardemanger. Ich bestückte das Salatbuffet, mischte die Dressings, bereitete die Vorspeisen vor, Zanderterrine mit Senfgurken oder Wildpastete mit Sauce Cumberland, alles hausgemacht und frisch. Und durchlief von dort die klassischen Posten der französischen Küche: Saucier, Entremetier (Gemüse), Rotisseur (Fleisch), Poissonnier (Fisch).

Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass mich meine Eltern einmal besucht hätten. Aber sie kamen nie, in den ganzen drei Jahren. Sie wären nie auf die Idee gekommen. Sie dachten, das Restaurant sei zu fein für sie.

Ich lernte jeden Tag dazu, es hätte eine schöne Zeit werden können, wäre der Souschef nicht gewesen, der stellvertretende Küchenleiter. In einem fort kritisierte und gängelte er mich, ja knallte mir Ohrfeigen ins Gesicht, bayerisch: Watschen. Als mich die Kollegen einmal verteidigten, erzählte er was von harter Schule und fügte hinzu: „Ich bin kein Rassist.“ Ich wurde hellhörig und wusste einmal mehr: Egal, wie gut ich in meinem Job sein würde – es würde immer Menschen geben, die mich meiner Herkunft wegen ablehnen.

Es war eine schwere Zeit für mich. Ich konnte machen, was ich wollte, immer wieder bekam ich einen Anschiss von ihm. Längst war ich ein guter Koch, trotzdem hätte er mich fast dazu gebracht aufzugeben. Aber wieder befahl ich mir, die Zähne zusammenzubeißen. Wieder führte der Gegenwind dazu, dass ich mich noch mehr anstrengte. Es sollte nicht heißen: Der Türke hat es nicht gepackt. Ich würde es ihm zeigen.

Ich hielt durch – und bestand die Abschlussprüfung mit einer glatten Eins. Nicht nur das: Die IHK Oberbayern verlieh mir ein Begabtenstipendium. Im Lauf von zehn Jahren durfte ich 10.000 Mark ausgeben für Kurse und Fortbildungen. 

Und obwohl ich in einem bayerischen Wirtshaus gelernt hatte, begann nun meine Karriere in der gehobenen Gastronomie. Ich bewarb mich im Glockenbach, einem Sternerestaurant, einem der bekanntesten Restaurants in München, geführt vom legendären Raubein Karl Ederer. Ich war 18 Jahre alt und nervös, als ich ihm beim Vorstellungsgespräch gegenübersaß. Ederer legte die Speisekarte vor mich: Avocadosalat mit Flusskrebsen, Hummer, Trüffel, Gemüseravioli – alles Speisen und Produkte, die ich nie im Leben zubereitet hatte.

Ob ich mir das zutrauen würde, fragte Ederer.

„Ich habe so etwas noch nie gekocht, aber ich möchte es lernen“, antwortete ich ehrlich. 

Er führte mich herum, zeigte mir die Küche und sagte den denkwürdigen Satz: „Mir ist scheißegal, ob du Türke bist – Hauptsache, du kannst kochen.“ So kam ich ins Glockenbach. 

In den ersten Woche fürchtete ich täglich, nach Hause geschickt zu werden. Aber ich durfte bleiben, Tag für Tag. Und lernte, wie man erstklassige Produkte – Artischocken, Oktopus, Reh, Fasan, Wildhase, Jakobsmuscheln, Flusskrebse – auf natürliche und zugleich ungewöhnliche Weise zubereitet.

Die Arbeit war hart, knüppelhart. Zwölf, 13 Stunden stand ich in der Küche, und immer wieder gab es einen Anschiss von Ederer, wenn ich etwas nicht haargenau so gemacht hatte, wie er es sich vorstellte. An manchen Morgen war ich so erschlagen, dass ich einfach liegen blieb. Zehn, 20 Minuten lang kam ich nicht aus dem Bett und dachte: Ich packe es nicht, ich kündige, es ist zu viel. Aber dann meldete sich mein Pflichtbewusstsein, ich sprang auf und ging doch zur Arbeit. Zwei Jahre lang hielt ich es bei Ederer aus, länger als die meisten.

Von da ging es weiter ins berühmte Tantris, ein Zweisternerestaurant in München, einst eröffnet von Eckart Witzigmann, der die deutsche Haute Cuisine mitbegründet hatte, ein Gourmettempel mit 120 Plätzen und eine Kaderschmiede für Köche. Weiter zu Fritz Schilling in die Schweizer Stuben in Wertheim.

Eines Tages, ich war 24 Jahre alt, klingelte das Telefon: Karl Ederer war dran, mein raubeiniger Chef aus dem Glockenbach. Und bot mir eine Stelle in seinem neuen Münchener Restaurant an – als Küchenchef. Was für eine Ehre! Begeistert sagte ich zu. 

Vor der Eröffnung sprach ihn einer seiner Freunde an, ob er wirklich einen Türken zum Küchenchef seines Restaurants machen wolle. Das muss man sich mal vorstellen – im Jahr 2001! Um mich nicht zu entmutigen, erzählte mir Ederer diese Geschichte erst viel später. „Diese verdammten Rassisten“, grantelte er.

Das Restaurant lief vom Start weg glänzend, wir waren voll, mittags und abends. Prominente gaben sich die Klinke in die Hand, Leo Kirch und Boris Becker, Karl-Heinz Rummenigge und Rudolph Moshammer mit seinem Schoßhündchen Daisy, dem wir fein geschnittenen Lammrücken servierten.

Und weiter, ins Szenelokal Lenbach. Mick Jagger und Kanzler Schröder ließen sich mit mir fotografieren, ich stand in der „Bunten“, ich war bekannt, ich schuftete und schuftete.

Bis mir eines Tages, nach einem hässlichen Streit mit der Geschäftsführerin, plötzlich glasklar vor Augen stand: Du musst etwas ändern.

Ich erinnere mich genau an jenen Abend. Es war ein Schlüsselmoment in meinem Leben. Ich machte mir eine Flasche Bier auf und setzte mich in die Küche. Ich war 27. Seit ich 14 war, hatte ich mich für andere abgerackert. Wie lange sollte es noch so weitergehen?

Mein Bauch kribbelte vor Freude, als plötzlich die Idee vor mir stand: Ich würde mich selbstständig machen. Ich würde auf volles Risiko gehen und kündigen, ohne einen neuen Job zu haben. Ich wollte die Früchte meiner Arbeit endlich selbst ernten und mein eigener Chef sein. Ich wollte so kochen, wie ich es wollte. 

In den nächsten Tagen schwebte ich förmlich durch den Alltag. In meinem Kopf poppten Ideen auf, Träume, Möglichkeiten, so viele Türen gingen auf, ich wollte sie alle durchschreiten. Ich erzählte anderen von meinem Plan, und wieder hatte ich Glück: Nicht lange, da rief mich eine Bekannte an und erzählte mir von einer traumhaften Location in Hamburg. Sie gehöre dem Architekten Meinhard von Gerkan. Ich wusste gleich, welchen Ort sie meinte.

Ein paar Jahre zuvor hatte ich das Restaurant Le Canard in einer Reportage gesehen: ein weißes Gebäude, eine große Terrasse hoch über der Elbe mit Blick auf den Hafen. Damals hatte ich mir gesagt: Mein Gott, was für eine traumhafte Location, das wäre genau das Richtige für dich! Und nun wurde mir exakt dieses Lokal angeboten, das Le Canard, das seit einem Jahr leer stand. Nach zähen Verhandlungen griff ich zu.

Am 27. April 2005 eröffneten wir. Ich ignorierte die Schlagzeile in der „Bild“ eine Weile zuvor: „Gibt es bald Edeldöner im Le Canard?“ – und knüpfte an den französisch-mediterran-orientalischen Stil an, den ich mir in München erarbeitet hatte. Das Angebot reichte von Thunfisch-Sashimi mit Tabouleh bis zu Lamm mit Polenta-Parmesan-Soufflé, von Rotzunge mit Zitronen-Tomaten-Confit und Kartoffel-Trifolati bis zu Filet vom Angusrind, das ich in Côtes du Rhône pochierte und mit Zwiebelkompott servierte.

Der Plan ging auf. Beinahe vom ersten Tag an lief es gut. Die Zeitungen berichteten, das Restaurant war gut besucht, das Le Canard war wieder eine der ersten Hamburger Adressen.

Ein Jahr später im November hatte ich meinen freien Tag und schlief mal wieder so richtig aus. Als ich mein Handy anmachte, war ich erstaunt über die vielen Nachrichten. Was war denn da los? Prompt klingelte es, ein bekannter Weinhändler war dran: „Herzlichen Glückwunsch zum Stern, Ali!“

Ich war perplex, aber schon klingelte es wieder, ich bekam die nächsten Anrufe und Gratulationen. Ich weinte vor Freude, ich war überwältigt. Ich ging rüber ins Restaurant, nahm mir ein Glas Wein, schaute über die Elbe und genoss den Moment. Großer Stolz erfasste mich. Ich hatte es geschafft.

2017 ging ich von Hamburg zurück in meine Heimatstadt München und konzentrierte mich auf das Pageou. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nur eines noch. Es gibt viele erfolgreiche Männer und Frauen mit türkischen Wurzeln in Deutschland. Wir haben viel erreicht, aber wir könnten viel weiter sein. Warum gibt es nicht mehr von uns, die Erfolg haben, die mehr aus ihrem Leben machen? 

Deutschland ist so ein tolles Land. Wenn du willst, kannst du hier so viel erreichen. Aber es liegt an dir. Du musst etwas dafür tun.

Ja, wir werden abgewiesen. Wir werden abgelehnt – in der Schule, am Eingang zur Disco, im Job. Nehmt es euch nicht zu Herzen. Gebt nicht auf. Bleibt beharrlich, haltet an eurer Idee fest. Ihr seid ein Teil von Deutschland. Macht etwas daraus.  
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