Meine Klassenlehrerin war engagiert und tat viel, damit ich mich wohlfühlte. Zwar hatte ich nicht den Luxus, dass meine Eltern mich bei meinen Schulaufgaben unterstützen konnten, aber es lief sehr gut. Ich bekam die Gymnasialempfehlung.
Meine Mutter hatte nicht studiert, aber ihr war klar, dass Bildung der Schlüssel zu allem ist. Sie hat sich für viele Kinder eingesetzt. Mehrere hat sie vor der Sonderschule bewahrt. Sie sollten dorthin abgeschoben werden, weil ihr Deutsch nicht so gut war. Einige von ihnen studieren heute oder sind Ingenieure.
Meine Mutter half anderen Eltern, sich zurechtzufinden im Bildungswirrwarr in Bayern, sie schärfte ihnen ein, dass sie präsent sein, zur Elternsprechstunde gehen müssen, zeigen sollen, dass sie hinter ihren Kindern stehen.
Auch auf dem Gymnasium auf dem bayerischen Land war ich zunächst die einzige Türkischstämmige. Für das Lehrerkollegium und meine Mitschüler:innen war das gewöhnungsbedürftig. Immer wieder musste ich mir anhören: „Du bist anders als andere Türken.“ Was sollte denn an mir anders sein? „Wie viele kennt ihr denn? Nein, ich bin nicht anders, ich bin wie alle anderen“, widersprach ich. Hat es etwas genutzt?
Viele Lehrer:innen meinten es gut. Aber auch die ließen mich spüren, dass ich nicht dazugehörte. Bei meiner Abiturfeier konnte sich unser Direktor die flapsige Aussage nicht verkneifen: „Endlich schafft auch mal eine Türkin das Abitur.“
Kurz zuvor hatte ich mich entschieden, einen Einbürgerungsantrag zu stellen. Ich hatte einen türkischen Pass wie meine Eltern, obwohl ich in Deutschland geboren, hier aufgewachsen, zur Schule gegangen war. So sah es das damalige Staatsbürgerschaftsrecht vor. Bald würde ich Abitur machen und Politik studieren – und trotzdem wurde mir das Grundrecht zu wählen verwehrt? War das Demokratie? Das war für mich nicht akzeptabel.
Also holte ich die Formulare für einen Einbürgerungsantrag im Landratsamt Neu-Ulm ab. Da wurde mir unmissverständlich deutlich gemacht, in welche Schublade ich gehörte: „Bringen Sie eine Kopie Ihres Hauptschulabschlusses mit“, rief mir die Sachbearbeiterin hinterher.
Ich stand kurz vor dem Abitur, ich fühlte mich angekommen, und dann so ein Kommentar. Na gut, dachte ich, dann lässt du dich eben nicht einbürgern.
Einige Jahre später machte ich es doch, aus rein praktischen Erwägungen: Ich hatte mit meinem türkischen Pass kein Visum für mein Praktikum in den USA bekommen. Noch einmal sollte mir das nicht passieren. Also durchlief ich das Verfahren. Am Tag meiner Einbürgerung freute sich der ältere Sachbearbeiter (ich erinnere mich genau an seinen Namen), die Zigarre im Mund: „Sie bekommen ja an einem ganz besonderen Tag Ihre Einbürgerung.“
Es war der 20. April. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Aber die mich begleitende Person hatte es auch gehört. Damals war mir „Dienstaufsichtsbeschwerde“ kein Begriff. Leider.
Solange ich mich erinnere, habe ich mich für internationale Politik, globale Zusammenhänge, andere Kulturen, Länder und Religionen interessiert. Ich wollte unbedingt etwas Internationales machen, mich mit internationaler Politik, Völkerrecht, Menschenrechten beschäftigen. Das stand fest. Da geschah, wenige Tage vor Abgabe meiner Politik-Diplomarbeit, der 11. September. Mein erster Gedanke: Wer würde jetzt noch eine Muslimin einstellen?
Doch es kam anders. Ich hatte mich bei der Studienstiftung des deutschen Volkes für ein Promotionsstipendium beworben – und erhielt eine Zusage. Und am selben Tag erhielt ich ein Schreiben vom Auswärtigen Amt – mit einer zweiten Zusage. Ich hatte mich dort auf Drängen meiner Schwester beworben. Dass jemand mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst eingestellt würde und dann auch noch im Auswärtigen Amt, erschien mir als völlig unrealistisch. Es gab ja auch niemanden, der mir als Vorbild hätte dienen können.
Ich wurde eingestellt. Und begann meine Berufslaufbahn im Auswärtigen Dienst. Nach meinem ersten Posten im Arbeitsstab Afghanistan/Pakistan ging es ins Team des außen- und sicherheitspolitischen Beraters der Bundeskanzlerin im Bundeskanzleramt. Dort beschäftigte ich mich mit der Golfregion und Afrika. Zuletzt war ich war an der Ständigen Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen in New York zuständig für den Nahen und Mittleren Osten. Heute bin ich im Auswärtigen Amt stellvertretende Referatsleiterin für Syrien und Libanon.
2011 schloss ich die diplomatische Akademie ab. Auf der Abschlussfeier fragte der Vater einer Crewkollegin meinen Vater: „Und, wann planen Sie, in Ihre Heimat zurückzukehren?“
Es hat sich viel geändert. Als ich vor zehn Jahren im Auswärtigen Amt begann, gab es im höheren Dienst keine Diplomat:innen mit türkischen Wurzeln. Heute ist der Auswärtige Dienst diverser. Nicht allen gefällt das, wie mir ein junger Kollege deutlich zu verstehen gab. Andererseits hatte ich das Glück, mit wirklich beeindruckenden Diplomat:innen zu arbeiten – sowohl fachlich als auch menschlich brillant, die mir Mut gemacht und mich unterstützt haben.