Meryam Schouler-Ocak

„Viele halfen mir anzukommen. Heute helfe ich anderen"

Die karge Kindheit. Der umgeworfene Kneipentisch. Die Doktorarbeit über Staublungen. Der Kampf für die geistige Gesundheit von Zugewanderten. Meryam Schouler-Ocak hat viele Welten durchquert. Heute ist sie Professorin an der Berliner Charité.

Meryam Schouler-Ocak, geboren am 15. März 1962 in Palaklı, Giresun, in der Türkei, ist Professorin für Interkulturelle Psychiatrie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Ihre Positionen: Leitung des Forschungsbereichs Interkulturelle Versorgungs- und Migrationsforschung und Sozialpsychiatrie. Leitende Oberärztin. Vorsitzende der Kommission für Ethische Angelegenheiten der Europäischen Psychiatriegesellschaft (EPA). Vorstandsmitglied der EPA. Vorsitzende der Sektion Transkulturelle Psychiatrie des Weltverbandes für Psychiatrie (WPA), wo sie Ehrenmitglied ist. Leitung der Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Versorgung von Geflüchteten und Migranten der WPA. Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Psychiatriegesellschaft (DTGPP). Vorsitzende der Sektion Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration der Deutschen Fachgesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN). 2014 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Mein Vater war ein zurückhaltender Mensch. Meine Mutter war eine Kämpferin.

Eines Abends kam mein Vater nach Schichtende nicht nach Hause. Er war Bergmann in einer Zeche in Duisburg. Also zog Mutter, die damals ganz neu in Deutschland war und kein Wort Deutsch sprach, um 23 Uhr in der Nacht los, um ihn zu suchen. Sie erkundigte sich bei Nachbarn, fragte sich durch zu Kollegen, keine Ahnung, was sie denen gesagt hat, aber mit Händen und Füßen und „ja“ und „nein“ fand sie heraus, wo Vater war: in der Kneipe! Und so marschierte sie los, begleitet von einer Nachbarin, die ihr den Weg zeigte.

Vor der Kneipe angekommen, fragte sie jene, die rauskamen: „Mehmet?“ Ja, Mehmet war drinnen, also ist Mutter auch rein, sah, wie er an einem Tisch saß und gemeinsam mit Männern und Frauen zechte. Mein Vater war perplex, sie dort zu sehen, meine Mutter war außer sich und beschimpfte ihn auf Türkisch, er schimpfte zurück, so ging es hin und her – bis Mutter vor lauter Wut den Kneipentisch umwarf. 

Jetzt ging Vater unter die Decke, wollte auf Mutter los, andere gingen dazwischen, großes Geschrei – bis sich irgendwann alle wieder beruhigten und die beiden gemeinsam nach Hause gingen. 

Meine Eltern haben uns diese Geschichte immer wieder erzählt, und wie das so ist bei solchen Erlebnissen, im Rückblick werden sie zur Anekdote. Ich jedenfalls habe meine Mutter für ihren Mut bewundert. Dass sie sich getraut hat, in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht spricht und dessen Kultur sie nicht versteht, in eine Kneipe zu marschieren und vor aller Augen um meinen Vater zu kämpfen. Hut ab, Mama! 

Die ersten knapp sieben Jahre habe ich im Nordosten der Türkei gelebt, in einem Dorf unweit der Schwarzmeerküste. Mein Vater war 1963 nach Deutschland gegangen und kam einmal im Jahr heim, um uns zu besuchen. Meine erste Erinnerung an ihn: Er saß inmitten vieler anderer Männer in der Dorfmoschee und war der einzige in Anzug und Krawatte. Jemand führte mich zu ihm und setzte mich auf seinen Schoß. Er schaute mich liebevoll an, alle anderen schauten mich freundlich an, ich aber fühlte mich ziemlich unwohl inmitten all dieser fremden Männer und lief gleich wieder weg. 

Meine Kindheit war wunderbar, unbeschwert und frei. Oft zogen meine Cousine und ich gemeinsam los, um Lilien oder Erdbeeren zu pflücken, Pilze zu sammeln oder Haselnüsse zu ernten. Wir hatten Milchkühe, eine Katze, ein Schaf. In den heißen Sommermonaten zogen wir mit den Großeltern und den Tieren auf die Yayla, unsere Alm. 24 Stunden dauerte der Weg, wir übernachteten unterwegs, und wenn wir Kinder müde waren vom Gehen, wurden wir in einen der Körbe gepackt auf dem Rücken eines Esels und schliefen ein vom Schaukeln. 

Unsere Yayla lag zu Füßen des berühmten Bergs Halbaba. Der „Sorgenvater“, man schrieb ihm magische Kräfte zu. Die Menschen pilgerten bei Kinderlosigkeit oder Krankheit hinauf, um den Beistand des mächtigen Berges zu suchen. 

1969 folgten meine Mutter und mein jüngerer Bruder unserem Vater nach Duisburg. Meine Schwester und ich mussten zurückbleiben, erst bei der einen Großmutter, dann bei der anderen. Das gefiel uns gar nicht. Anfangs fühlten wir uns wie Waisen und spürten das bohrende Gefühl, nicht gewollt zu sein. 

Ein Jahr später holten unsere Eltern uns nach. Ein über drei Ecken bekannter Gastarbeiter begleitete uns auf dem Flug. Als die Bordmahlzeiten serviert wurden und die Stewardess auch vor jede von uns ein Tablett mit einem halben Hähnchen stellte, konnten wir es kaum glauben. So viel Fleisch! Das kannten wir nicht. Die Portionen waren riesig. Und auch das ist eine der Anekdoten, die wir uns heute immer wieder erzählen. 

Als wir in Düsseldorf ankamen, konnte meine Mutter ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie uns völlig verlaust entgegennahm. Wir kamen vom Bauernhof, und das Erste, was uns darum zuteilwurde, war eine Läusekur. 

Drei Wochen nach unserer Ankunft wurden wir eingeschult, meine Schwester kam in die dritte Klasse, ich in die zweite. Damals gab es kaum Kinder mit Migrationshintergrund in Duisburg. Bald hatte ich die ersten deutschen Freundinnen, und schon nach wenigen Wochen stand ich auf dem Spielplatz und unterhielt mich mit ihnen. Fragen Sie mich nicht, wie das ging. 

Mein Vater arbeitete weiter im Schichtdienst unter Tage, meine Mutter machte Akkord in einer Blechwarenfabrik, die Eimer und Konservendosen herstellte. Wenn wir morgens aufstanden, war sie schon aus dem Haus, wenn wir mittags aus der Schule kamen, noch lange nicht da. 

Zusammen mit unserem Bruder bewohnten meine Schwester und ich ein winziges Zimmer. Unser Schreibtisch: der Wohnzimmertisch. Dort saßen wir nachmittags gemeinsam und machten unsere Hausaufgaben. 

Wir waren früh selbstständig. Das meiste kriegte ich gut hin, eines aber lernte ich nie: pünktlich zu sein. Fast immer kam ich ein paar Minuten zu spät, weil ich verschlafen oder ein Heft nicht gefunden hatte oder meine Schuhe oder weil sonst irgendwas war. Ich schlich mich in die Klasse und entschuldigte mich. Die Lehrerinnen und Lehrer sahen es mir nach. 
Der Vater, der nicht aufhört, sich Vorwürfe zu machen, weil er seinen Sohn im Krieg verlor. Die Heiratsmigrantin, die gegen ihren Willen ver- heiratet wurde und es nicht erträgt, von ihrem Ehemann angefasst zu werden.
Da uns unsere Eltern nicht unterstützen konnten, waren sie umso wichtiger für unsere Entwicklung. Besonders mochte ich Herrn Franken. Er stärkte und motivierte mich, wo er nur konnte. Einmal, bei einem Diktat in der dritte Klasse, hatte ich auf Anhieb das Wort „überqueren“ richtig geschrieben. Er war begeistert und lobte mich vor der Klasse.

Diese kleine Szene ist mir noch genau in Erinnerung. Ja, das Wort wurde so etwas wie zu einem Lebensmotto. Ich musste so manche Kluft überqueren. Hier das Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste, dort die Großstadt im Ruhrgebiet. Hier die Armut, dort der Überfluss. In meiner Kindheit hatte ich gelernt, was Hunger bedeutet. Nun musste ich lernen, mich in einer Konsumgesellschaft zurechtzufinden. Hier das Mädchen, das in einem türkischen Dorf aufwächst, dort die Professorin für Interkulturelle Psychiatrie. 

Meine frühe Prägung war in der traditionellen Großfamilie erfolgt. Der berühmte türkische Familienzusammenhalt, er ist in mancher Hinsicht eine Verklärung und verschleiert oft nur den ökonomischen Zwang. So manches an der Tradition gefiel mir immer weniger. 

Meine Eltern waren konservativ geprägt, seit jeher galt in ihrer Welt: Töchter heiraten früh, kümmern sich um Kinder und Haushalt und werden von ihrem Ehemann versorgt. Sie meinten es fürsorglich, sie wollten richtig handeln, aber für mich war bald klar, dass ich auf eigenen Beinen stehen, studieren und nicht so schwer arbeiten wollte wie meine Eltern. 

Wieder war es Herr Franken, der mich unterstützte. Er brachte meine Eltern dazu, mich auf dem Gymnasium anzumelden. 

In allen Fächern hatte ich Einsen und Zweien, nur in Deutsch eine Vier. „Das kann ich nicht mit anschauen“, sagte eines Tages Frau Großterlinden zu mir, meine Deutschlehrerin, „ich will, dass du den Anschluss findest“ – und gab mir umsonst Nachhilfe. Vor der zehnten Klasse zogen wir um, ich bekam ein anderes Lateinbuch, kannte viele Vokabeln nicht und sackte ab. Da sprach mich Herr Elsenbruch an, der neue Lateinlehrer, eigentlich ein strenger Bürokrat, Anzug, Krawatte, Aktentasche, picobello und wie aus dem Ei gepellt. Ob wir nach der Schule zusammen Latein üben sollten. Freundlich und nahbar war er plötzlich. 

So viele Menschen halfen mir anzukommen. Heute helfe ich anderen anzukommen. 

Meine Eltern wollten nicht, dass meine Schwester und ich abends ausgingen. Wir bestanden darauf – und mussten so manches Mal mit unseren Eltern kämpfen. Am Ende fanden wir eine kreative Lösung: Wir nahmen unseren jüngeren Bruder als Alibi mit. Er freute sich, dass er länger rauskonnte, wir waren happy, nicht um acht zu Hause sein müssen. Am Ende mussten wir nur darauf achten, zusammen daheim anzukommen und die gleiche Geschichte zu erzählen. Wir reduzierten den Konflikt mit unseren Eltern und eroberten uns dennoch Freiräume. 

Meine Freundinnen bekamen Belohnungen für gute Noten. Ich schrieb lauter Einsen und bekam nichts. Ich sprach meinen Vater darauf an. „Meine Tochter, du gehst nicht für mich, sondern für dich zur Schule“, sagte er freundlich. Er war weich und herzlich und humorvoll. 

Einer meiner Jobs als Schülerin: Ich übersetzte für Pro Familia, die Sexual-, Schwangerschafts- und Partnerschaftsberatung. Hier lernte ich aus allererster Hand Familien aus ganz verschiedenen Welten kennen, ihre Sichtweisen, ihre Probleme. Ich hatte Chemie als Leistungsfach und wollte eigentlich Chemie oder Biochemie studieren. Doch dann entschied ich mich für Medizin – auch deshalb, weil ich bei Pro Familia erlebt hatte, wie dringend Migrantinnen und Migranten eine gute Versorgung brauchen. 

1982 begann ich mein Medizinstudium in Hannover, über die „Ausländerquote“ bekam ich ohne Wartesemester einen Platz. In der ersten Woche nahm ich an einer Einführung für internationale Studierende teil, und das war ein Segen: Wir freundeten uns an, unterstützten uns, bald wurden wir eine Clique. Die anderen kamen aus Polen und Norwegen, den USA, Tunesien und Israel. Ich traf dort Eva-Maria aus Österreich, Helena aus Tschechien und Vaitsa aus Griechenland, bis heute zählen sie zu meinen besten Freundinnen. Zusammen fiel das Studium viel leichter, gemeinsam waren wir eine tolle Gruppe und feierten viele internationale Feste. 

Meine erste Spezialisierung: Neuroanatomie. Ich wollte wissen, wie das Gehirn funktioniert, arbeitete mich in das Thema ein und war vier Jahre lang studentische Neuroanatomie-Tutorin. Nebenbei arbeitete ich als Hilfskraft im Krankenhaus und verbesserte dadurch meine Finanzen. 

Das Thema meiner Dissertation: welche Schäden Feinstaub in der Lunge anrichtet. Habe ich es gewählt, weil mein Vater als Bergmann unter Tage Unmengen Staub eingeatmet hat? Damals sah ich die Verbindung nicht, heute ist sie offensichtlich. Es war jedenfalls ein aufregendes Projekt, ein großes Forschungsvorhaben am Fraunhofer-Institut in Hannover. Ziel meiner Arbeit darin: verbindliche Grenzwerte zu erfassen, um Arbeiterinnen und Arbeiter vor Gesundheitsschäden durch Feinstaub zu schützen. Wir testeten drei Stäube im Tierversuch, Titandioxid, Eisenpulver, PVC, in unterschiedlichen Konzentrationen. Ab wann bilden sich Entzündungen, Gewebeveränderungen, ab wann verändern sich die Abwehrzellen? 

Nach dem Studium ließ ich mich in Deutschland einbürgern. Das dauerte fast ein ganzes Jahr, weil die Papiere aus meinem Heimatdorf einfach nicht ankamen. Ich wartete und wartete, Monat für Monat, doch es ging einfach nicht voran. Durch einen Zufall erfuhr ich, warum: Mein Onkel war Bürgermeister in meinem Heimatdorf und blockierte die Ausstellung der Papiere. Er wollte nicht, dass ich „eine Fremde werde“. 

Später habe ich meinen deutschen Freund geheiratet. Mein Vater hatte eine traditionelle türkische Hochzeit im Sinn, mit Hunderten Gästen. Ich hatte andere Pläne. Wenn ich schon heiratete, dann wollte ich die Gäste auch persönlich kennen. Und so entschieden uns für eine deutschtürkische Hochzeit, in einem kleineren Kreis. 

Nach dem Studium wollte ich meinen Facharzt eigentlich nur in Neurologie machen. Aber unterwegs entdeckte ich meine Leidenschaft für die Psychiatrie. Vor allem, weil ich erlebte, wie schwer es für Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund ist, angemessen psychiatrisch versorgt zu werden. Ich wurde Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. 

Das wurde mein Lebensthema: die interkulturelle Psychiatrie. Ich kenne beide Welten, die deutsche und die migrantische, das eröffnet mir einen privilegierten Zugang zu den seelischen Problemen von Zugewanderten. 

Heute bin ich Professorin für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité und zugleich Leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus. 2014 habe ich das Bundesverdienstkreuz bekommen für meine Arbeit. Ich unterrichte, ich forsche, und bis heute behandle ich Patientinnen und Patienten in der Ambulanz unserer Einrichtung. 

Viele Migrant:innen und Geflüchtete kommen zu uns in die Sprechstunde. Wir verstehen sie, buchstäblich: Wir können auf einen großen Pool von Dolmetscherinnen und Dolmetschern zurückgreifen, die wir zum Teil selbst ausgebildet haben. 

Wir sehen Depressionen und chronische Schmerzen, wir haben Patient:innen mit Spielsucht und solche, die unter Psychosen leiden – und zur individuellen Erkrankung kommt immer der Umstand, dass sie in einer fremden Kultur auftritt. Die Heiratsmigrantin, die gegen ihren Willen verheiratet wurde und es nicht erträgt, von ihrem Ehemann angefasst zu werden und mit heftigen Beschwerden darauf reagiert. Die Geflüchtetengruppe mit traumatisierten Menschen aus Syrien. Der Vater, der nicht aufhört, sich Vorwürfe zu machen, weil er seinen Sohn im Krieg verlor. 

Ich habe geholfen, dass neue Elemente in das Medizinstudium an der Charité aufgenommen wurden. Wie arbeite ich mit Dolmetscher:innen? Wie erkenne ich kulturspezifische Aspekte der Symptome? Das wird heute auch mithilfe von Simulationspatient:innen trainiert und ist fester Bestandteil im Studium. 

Seit 25 Jahren mache ich mir Gedanken darum, wie Behandlungsangebote für Patient:innen mit Migrations- und Fluchthintergrund aussehen müssten. Wobei ich auch begriffen habe: Spezialangebote können keine dauerhafte Lösung sein. Vielmehr muss die Versorgung für diese Personengruppe in die allgemeinen Versorgungsstrukturen integriert werden. 

Mitte der Nullerjahre, inzwischen war ich an die Charité gewechselt, offenbarten wissenschaftliche Untersuchungen, dass sich überdurchschnittlich viele türkischstämmige Mädchen und Frauen das Leben nehmen. Warum? Dem gingen wir in einem Forschungsprojekt nach. 

Bei jungen Frauen waren es: Identitätsprobleme, der Zwang, sich der türkischen Kultur anzupassen und eine „Marionette“ der Familie sein zu müssen, kein Vertrauen in Personen außerhalb der Familie haben zu können. 

Bei Frauen im mittleren Alter waren es: mangelnde Wertschätzung von der Familie des Mannes, Untreue des Mannes, häusliche Gewalt, finanzielle Abhängigkeit, Trennung und Scheidung. 

Bei Heiratsmigrantinnen waren es: Heimweh und Sprachprobleme, Probleme, sich an die deutsche Gesellschaft und die Familie des Mannes anzupassen, der Zwang, ein „Dienstmädchen“ der Schwiegerfamilie sein zu müssen. 

Daran anschließend starteten wir unsere Aufklärungskampagne. Sie hieß „Beende dein Schweigen, nicht dein Leben“ und setzte alles daran, die im Berliner Krisendienst angesiedelte türkischsprachige Krisenhotline bekannter zu machen. Jede sechste der Anruferinnen war zum Zeitpunkt des Anrufes suizidal, sodass kurzfristig interveniert werden musste. Unsere Aufklärungskampagne bewirkte, dass die Suizidversuchsrate bei jungen Frauen in der zweiten Einwanderergeneration spürbar zurückging. Doch noch immer ist sie viel zu hoch. 

Meine Mutter lebt heute wieder in der Türkei. Vor einigen Jahren rief sie mich an – sie habe eine Frau kennengelernt, die doch glatt behaupte, ich hätte ihr das Leben gerettet. Ich erinnerte mich: Ich war damals Assistenzärztin in Hildesheim, die Frau kam mit einer Depression zu mir, sie fühlte sich nicht verstanden. Seit Jahren war sie in Behandlung. Mir kam die Diagnose Depression merkwürdig vor. Deuteten ihre Symptome nicht vielmehr auf eine organische Ursache hin? Ich schickte sie zur Bildgebung, mein Verdacht bestätigte sich – es war eine große, gutartige, raumfordernde Wucherung im Kopf. Sie wurde umgehend operiert. 

Ich freute mich, dass meine Mutter so stolz war. 

Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben. Ich sehe ihn vor mir, wie er und seine Brüder Horon tanzen, den Volkstanz unserer Region. Wie leichtfüßig, elegant und präzise er und seine Brüder sich zur Kemençe bewegen, der Kastenhalslaute, dem Instrument der Schwarzmeerküste. Er liebte diese Musik und diesen Tanz. Auch ich liebe diese Musik, ich spüre sie in meinem Körper. Auf Festen, ganz gleich ob im winterlichen Berlin oder an der sommerheißen Schwarzmeerküste, können meine Geschwister und ich stundenlang dieser Musik lauschen und Horon tanzen. Wenn ich müde bin, wenn ich mich ablenken möchte, wenn ich abschalten will von der Arbeit des Tages, setze ich mir meine Kopfhörer auf und versinke in dieser Musik. 

Manchmal fragen mich Leute: Wo bist du zu Hause? Dann sage ich: „Hier.“ Ich bin zu Hause in der Türkei, dort bin ich verwurzelt. Ich bin zu Hause in Duisburg, dort bin ich aufgewachsen. In bin zu Hause in Hannover, dort habe ich studiert. Ich bin zu Hause in Berlin, dort wohne und arbeite ich. 

Meine Schwester ist nach der Schule in die Türkei zurückgekehrt. Sie sagt manchmal zu mir: „Du bist eine richtige Deutsche geworden. Wie du dich bewegst, wie du gehst, wie du sprichst und denkst.“ Dann wundere ich mich und denke: Echt? Eine Deutsche? Welche Deutsche? Die oder die oder die? Die Deutsche, die Deutschtürkin, die Frau mit Migrationshintergrund? Und – ist das wichtig?    
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