Besonders beeindruckt hat mich Hikmet Hala, die Cousine meines Vaters. Sie war Apothekerin, eine Grande Dame und zugleich eine verrückte Nudel. Mehrfach verwitwet und geschieden, pflegte sie ihren eigenen, unkonventionellen Lebensstil und scherte sich kein bisschen darum, was andere von ihr dachten. Sie fuhr einen grünen Mercedes, neben sich ihren Schäferhund mit Sonnenbrille. Baute eine Bibliothek in ihrem Garten, ließ die Apotheke ihres Vaters – ohnehin ein wahres Museum – in Klein nachbauen und legte einen überdachten japanischen Steingarten in ihrem Hinterhof an, original mit Brücke, Teich und Goldfischen. Bis sie 96 wurde, arbeitete sie als wohl älteste praktizierende Apothekerin der Türkei.
Safranbolu ist klein und lebt im Takt der Jahreszeiten. Bäuerinnen brachten Joghurt an die Haustür. Oft saß ein großer Kreis Frauen im Garten und arbeitete gemeinsam. Sie zogen getrocknete Okraschoten auf Bändern auf, nähten weiche, bunte Steppdecken oder bereiteten Abendgesellschaften vor, mit 30, 40 Gästen. Kochten türkische Tortellini in riesigen Kupferkesseln, buken gemeinsam Baklava und Börek. Wenn die Gäste kamen, reichte man ihnen erst ein feuchtes Tuch, dann Erfrischendes, dann Salziges und Süßes mit Tee, dann Kaffee. Und ich war mittendrin und heimste als Tochter des Hauses viel Aufmerksamkeit und Lob ein.
Doch dann gab es Streit. Mein Großvater und mein Vater verstanden sich immer weniger. Nach den Jahren im Ausland war mein Vater nicht länger bereit, die Strenge und Schroffheit seines Vaters zu ertragen. Und nutzte die Gelegenheit, sich wieder nach Europa abzusetzen, indem er seinen Militärdienst als Fahrer bei den türkischen NATO-Truppen in Belgien beendete.
Mein märchenhaftes Leben war jäh zu Ende. Mir fiel der Abschied schwer. Wir gingen nach Wilhelmshaven, wohnten in einer engen Wohnung mit Möbeln aus zweiter Hand und lebten von der Frührente meiner Mutter. Nach seiner Rückkehr vom Militär bekam mein Vater die 1974 bei der AWO neu eingerichtete Stelle als Sozialbetreuer für die Türken und Türkinnen in Bremerhaven.
Für mich begann eine schwere Zeit. Heute würde man es Mobbing nennen und hoffentlich einschreiten. Ich musste mich allein durchbeißen. Türken galten damals, zumal in einer Arbeiterstadt wie Bremerhaven, als das Allerletzte. Hinterwäldlerisch, fundamentalistisch, primitiv – Malocher, die ihre Frauen schlagen, ihren Töchtern Kopftücher aufzwingen und aufs Plumpsklo gehen. Kulturlos, hoffnungslos, man ignoriert sie besser.
Und nun hielt ich in der Schule dagegen. Denn ich hatte die Vielfalt und Geschichte türkischer Kultur ja aus eigener Anschauung erfahren. Davon erzählte ich, wenn jemand über „die Türken“ lästerte. Doch niemand glaubte mir. In dieser Rolle fand ich mich bald wieder: Ich verteidigte die Türkei und den Islam und erklärte den anderen, wie es wirklich ist. Und musste mir anhören: „So ein Quatsch! Du lügst!“
Was die anderen richtig wütend machte: dass ich mich weigerte, mich in das Schicksal des gesellschaftlichen Underdogs qua kultureller Zugehörigkeit zu fügen. Ich war die Türkin, ich hatte diesen unaussprechlichen Nachnamen, und nun redete ich selbstbewusst irgendwelches Märchenzeug, anstatt mich demütig in meine Rolle als Außenseiterin zu fügen. Frechheit!
In meiner Erinnerung an diese Zeit kommt immer wieder diese Szene hoch: Die Mädchen standen auf dem Schulhof zusammen, ich kam näher, da schlossen sich die Reihen, sie wandten sich ab und grenzten mich aus, buchstäblich. Das fühlte sich furchtbar an. Noch meine „beste“ Freundin machte mit. Nachmittags war sie loyal. Morgens verleugnete sie mich.
Ein pädagogisch hilfloser Versuch meines Klassenlehrers, mir zu helfen: Er ließ uns einen Stuhlkreis machen, mit mir in der Mitte, und dann sollte jede Mitschülerin und jeder Mitschüler sagen, was er oder sie über mich dachte. Noch einmal bekam ich alle Missetaten zu hören: Die lügt. Die bildet sich was ein. Die behauptet falsche Sachen über die Türkei. Die ist dick. Die ist unsportlich. Die ist hochnäsig.
Für mich ein Schlüsselmoment meiner Schulzeit, über den ich heute erzählen kann, der mir jedoch lange sehr zu schaffen gemacht hat. Dazu beigetragen hat, dass sich mein Klassenlehrer Jahre später bei einem Klassentreffen einsichtig zeigte und für seinen pädagogisch-methodischen Fehlgriff entschuldigte.
Ich hatte keine gute Zeit in Bremerhaven.
Aber die Aussicht auf den nächsten Sommer heiterte mich auf. Und ich liebte die Ausflüge mit meinen beiden fast gleichaltrigen deutschen Cousinen in Wilhelmshaven. Baden in der Nordsee, Brombeeren pflücken, Fliederbeersirup herstellen, sich um den Schlaf quatschen. Mit ihnen hatte ich ein herzliches, familiäres Verhältnis, und einmal sind sie sogar mit in die Türkei gekommen.
Mein Vater, der Sozialbetreuer, war eine Art Bürgermeister für die rund 5.000 Türken und Türkinnen, die in Werften, Fischfabriken und Putzkolonnen arbeiteten und oft in erbärmlichen Wohnungen leben mussten, schimmlig, dunkel, schlecht belüftet. Er war zuständig für alles, von der Arbeitslosen- und Rentenversicherung über Unfälle und Psychotherapie bis zum Dolmetschen beim Gynäkologen und zur Vermittlung von Kindergartenplätzen.
Seine Aufmerksamkeit war eine begehrte Ressource, jederzeit konnte bei uns das Telefon klingeln. Wenn wir einkaufen gingen, trafen wir garantiert unterwegs ein paar Ratsuchende, die wie zufällig ein Behördenschreiben aus der Jackentasche zogen und dazu eine Frage hatten. Mein Teenager-Ich war genervt, alles war mir peinlich. Ich wollte auf keinen Fall, dass mein Vater auf der Straße mit mir Türkisch sprach. Sosehr ich in der Schule die Türkei verteidigte, so unauffällig wollte ich jenseits der Schule sein.
Mein Vater fühlte sich Deutschland sehr verbunden – und kam doch nie heraus aus der Rolle des überkonformistischen Gastes. Er erlebte viele Kränkungen. Nach seiner Zeit bei der AWO wurde er Personaler. Nie vergesse ich den Tag, an dem er verstört nach Hause kam und erzählte, dass sich ein Arbeiter in seiner Firma geweigert hatte, ihn als Personalsachbearbeiter zu akzeptieren, mit den Worten: „Ich lasse mich doch nicht von einem Türken einstellen!“
Nach dem Abitur ging ich nach Hamburg, um dort Turkologie zu studieren. Das Türkische war in meiner Schulzeit derart entwertet worden, dass ich dem etwas entgegensetzen musste. Ich wollte diesen Wert erhalten, für mich fassbarer machen, mich auf die Suche machen nach meinen Wurzeln. Ich war vom ersten Tag an begeistert. Hamburg war bunt und weltoffen, das Studium eine Offenbarung. Ich traf viele Kommilitonen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich, die binationale Eltern hatten und nun nach ihrem Weg suchten.
Wir gründeten eine Band und spielten selbst arrangierten türkischen Folk-Pop, ich als singende Frontfrau. Wir traten auf in Kneipen wie dem Knust, im AKA-Club, dem Treff für internationale Studierende, auf Fachbereichsfeiern. In lauen Sommernächten saßen wir bis zum Morgengrauen an der Außenalster. Wein, Gitarre, Freiheit. Bremerhaven war endlich weit weg.
Was macht man mit einem Turkologie-Studium? Führungen in Museen, Alphabetisierungskurse, Übersetzungen. Der Mann beim Arbeitsamt sah keine Perspektive für die Absolventin eines solchen Orchideenfachs. Unerwartet und zufällig fand ich dann doch eine befristete Stelle am Zentrum für Türkeistudien in Essen und wurde bald in eine Dauerstelle übernommen. Wir schrieben das Jahr 1991, es begann die Zeit der rechtsextremen Anschläge, der Informations- und Redebedarf war riesig. Bald fand ich mich auf großen Podien in West- und Ostdeutschland wieder und diskutierte über die Einwanderungsgesellschaft. Was mich dabei störte: dass ich häufig nicht als Wissenschaftlerin angesehen wurde, sondern als Repräsentantin der Türken. Ich wollte Expertise geben und wurde als Betroffene wahrgenommen. Das hat mir immer wieder viel abverlangt.
1999 schloss ich meine Promotion ab. Ich hatte Pädagogikstudentinnen türkischer Herkunft und muslimischer Religion zu ihren religiösen und moralischen Werten, ihren Vorstellungen von Erziehung und zum Kopftuch befragt. Und fand unter anderem heraus: Diejenigen unter ihnen, die es tragen, tun dies aus höchst unterschiedlichen Gründen. Mal wollen sie sich damit zu ihrer ethnischen Herkunft bekennen, sehen es als Zeichen ihrer Identität oder wollen ein Zeichen gegen Diskriminierung setzen. Mal steht das Kopftuch für einen aufklärerischen Islam. Mal für das genaue Gegenteil, für konservative Werte und ein traditionelles Rollenbild.
2003 war ich Gutachterin am Bundesverfassungsgericht. Die angehende Lehrerin Fereshta Ludin hatte geklagt gegen das Kopftuchverbot des Landes Baden-Württemberg. Aus meiner Forschung wusste ich, dass dieses kleine Stück Stoff für sehr, sehr vieles stehen kann – und plädierte für eine Betrachtung des Einzelfalls. Die Mehrheit der Verfassungsrichter folgte dieser Perspektive. Doch der praktische Streit ums Kopftuch zog sich in Schleifen über viele Jahre hin. Und endete vorerst 2015, als das Bundesverfassungsgericht entschied, dass Gesetze, die nur auf das Verbot des Kopftuches abstellen, nicht verfassungskonform sind.
2006 fand ich mich in den Schlagzeilen großer Printmedien wieder. Zusammen mit dem Publizisten Mark Terkessidis und 60 Unterzeichnenden hatte ich in der „Zeit“ einen offenen Brief veröffentlicht. Damals stand Necla Keleks Buch „Die fremde Braut“ in den Bestsellerlisten, in dem sie – verknüpft mit ihrer eigenen Familiengeschichte – kritisierte, dass „Import-Bräute“ ein Hindernis für Integration seien. Wir widersprachen und sahen in ihrem Buch ein „reißerisches Pamphlet, in dem eigene Erlebnisse und Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt werden“.
Das gefiel der Feministin Alice Schwarzer gar nicht. Ihre Mediennetzwerke nutzend, startete sie eine konzertierte Aktion. Und so konnte ich an einem Tag in der „Emma“ und „FAZ“ nachlesen, dass ich „sehr, sehr weit von wissenschaftlicher Neutralität entfernt und sehr, sehr eng mit der islamistischen Szene in Deutschland verbandelt“ sei. Nun ja.
2013 kontaktierte mich Sigmar Gabriel und fragte mich, ob ich es mir vorstellen könnte, in das Kompetenzteam des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück zu kommen, eine Art Schattenkabinett, um dort zuständig zu sein für Bildung und Wissenschaft. Ja, das wollte ich. So kam es, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Wahlkampf machte. Ich lernte, wie unterschiedlich Politik und Wissenschaft ticken. Gern hätte ich als Ministerin für Bildung und Wissenschaft die deutsche Migrationsgesellschaft mitgestaltet. Doch bekanntlich gewann Peer Steinbrück nicht die Wahl.
Seit 2004 bin ich Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Ein Glücksfall für mich: Ich liebe Bremen, das als kleine, bunte Großstadt mit wechselvoller, langer Geschichte viel zu bieten hat. In der Region bin ich aufgewachsen, hier lebt meine Mutter. Die Uni hat mir viel Entfaltungsraum für meine Ideen geboten, von Anfang an konnte ich meine Vorstellung von Bildung in der Migrationsgesellschaft theoretisch wie praktisch entwickeln und erproben, Lehrer und Lehrerinnen auszubilden. Von 2011 bis 2017 war ich Konrektorin für Internationalität und Diversität und konnte diese Themen auf Leitungsebene als Merkmal der Universität etablieren.
In Gedanken bin ich noch häufig in Safranbolu, doch leben dort heute nur noch wenige mir aus meiner Kindheit vertraute Menschen. Meine tiefe Bindung zur Türkei bleibt, auch wenn ich mich für Deutschland als Lebensmittelpunkt entschieden habe. Immerhin verbringen mein Mann Ferit und ich zusammen mit unseren Kindern Alara und Sinan die Sommer in Istanbul, seiner Heimatstadt, und an der Ägäis; wir teilen die Liebe zum Meer.
Nach wie vor habe ich das Gefühl, eine Art Brückenfunktion zwischen den Ländern und ihren Menschen zu haben. Dabei sind es vor allem die politischen Entwicklungen hier wie dort, die mein Zugehörigkeitsgefühl immer wieder erschüttern. Lange war das in Deutschland die verstörende Leugnung, ein Einwanderungsland zu sein, und die Blindheit gegenüber Rassismus. Was die Türkei anbelangt, teile ich die Sehnsucht mit meinem Freundes- und Verwandtenkreis, dass eine stabile Demokratie und Freiheit für alle Bürger doch noch möglich sein könnten – zu unseren Lebzeiten.