Dilek Gürsoy

"Wir besaßen wenig. Aber es fehlte uns an nichts“

Ihre Mutter war Analphabetin und würde 47 Jahre lang am Band eines Autozulieferers stehen. Die Tochter machte erst ein glänzendes Abitur und wurde dann eine glänzende Herzchirurgin. Heute ist Dilek Gürsoy eine europaweit führende Kunstherzspezialistin.

Dilek Gürsoy, geboren am 6. Dezember 1976 in Neuss, ist Herzchirurgin und Expertin auf dem Gebiet mechanischer Kreislaufunterstützungssysteme und Kunstherzen. Sie ist in Düsseldorf Chefärztin der Herzchirurgie in der Clinic Bel Etage und Inhaberin einer Privatpraxis. Seit Jahren ist sie national und international chirurgisch und beratend an der Entwicklung von Kunstherzsystemen beteiligt. Sie ist Autorin und Mentorin in Frauen- und Bildungsnetzwerken und trat prominent auf in verschiedenen Kampagnen des Landes Nordrhein-Westfalen und der Bundesregierung. Sie war Medizinerin des Jahres 2019, gekürt vom German Medical Club. Ihre Vision und Mission: die Etablierung eines Kunstherzzentrums in Deutschland
Als ich zehn war, starb mein Vater. Es ging ihm nicht gut an jenem Tag. Er klagte über Schmerzen in der Brust und fasste sich immer wieder an die Herzgegend. Abends fuhren wir gemeinsam ins Krankenhaus, mein älterer Bruder Fikri, meine Mutter und ich.

Wir warteten in der Notaufnahme. Ein Arzt kam herein und rief meinen Vater auf. Nach einer Weile begleitete er ihn aus dem Sprechzimmer heraus und erklärte uns, alles sei gut, er habe meinem Vater eine Spritze gegeben, das werde schon.

Doch es ging ihm nicht besser. Daheim saß mein Vater auf der Bettkante, war unruhig und bang. Ich wollte in seiner Nähe sein, brachte ihm einen Tee und kuschelte mich an ihn. Später gingen alle zu Bett. Wir hatten eine Zweizimmerwohnung, mein Bruder lag im Wohnzimmer auf der ausziehbaren Couch, ich schlief zwischen Vater und Mutter im Bett. 

Gegen Mitternacht weckte uns Fikri. Er hatte meinen Vater laut seufzen gehört. Benommen vom Schlaf sah ich, wie Mutter zur Wohnungstür rannte, zu Verwandten um die Ecke, um Hilfe zu holen.

Ich hörte meinen Bruder im Wohnzimmer schluchzen. Ich war allein mit meinem Vater. Er lag friedlich da. Stück für Stück rückte ich an ihn heran. Er sah aus, als würde er schlafen. Seine Augen waren geschlossen. Ich beugte mich über ihn und küsste ihm auf die noch warme Stirn. Dann sagte ich ihm leise, dass ich ihn lieb habe. Oder dachte ich die Worte nur?

Meine Mutter und ein Cousin kamen angerannt. Er tastete nach dem Puls unseres Vaters und horchte an seinem Herz. Nichts. Mit leerem Blick sagte er: „Er ist tot.“ Auch meine Mutter stand unter Schock. Sie holte zwei gehäkelte Tücher aus dem Schrank, das erste band sie meinem Vater um Kopf und Kinn, das zweite um die Füße. 

Der Notarzt kam herein, begleitet von zwei Polizisten. Dann kamen die Bestatter. Während sie meinen Vater für den Transport bereit machten, bat man uns ins Wohnzimmer und schloss die Tür. Dort saßen wir und warteten benommen. Ich hörte Geräusche im Flur und sprang auf, ich wollte meinen Vater noch einmal sehen. Ich stürzte zur Tür, doch die wurde von außen zugehalten. Ich zog mit aller Kraft daran und sah durch den Spalt gerade noch, wie mein Vater, in einem grauen Sack verpackt, auf der Trage abtransportiert wurde. Das war’s. Er war weg. Weg aus meinem Leben. Er wurde obduziert. Er hatte einen Herzklappenfehler gehabt, der keinem Arzt aufgefallen war. Heute hätte man ihn mit Leichtigkeit retten können. Hätte ich ihn retten können.

Ich trauerte. Mit meinem ganzen Körper spürte ich die Lücke, die er zurückgelassen hatte. Die Leere schmerzte. Ich hing an den Dingen, die er mir geschenkt hatte. Vor allem an der Schultasche aus braunem Leder, die er mir gekauft hatte, als ich aufs Gymnasium kam. Er war so stolz auf mich gewesen. Tag für Tag erinnerte mich die Tasche an ihn.
Ich fühle mich durch und durch als Neusserin. Traditionelle christliche Werte haben mich von klein auf geprägt und passten zu den Werten, die mir meine Eltern aus der religiös geprägten Kultur ihres Heimatlandes mitgaben.
Nach seinem Tod veränderte sich unser Familienleben. Meine Mutter musste uns Kinder nun allein durchbringen. Sie erhöhte die Stundenzahl, die sie täglich am Fließband stand, um alle Rechnungen bezahlen zu können. Von sieben bis 16 Uhr war sie von nun an aus dem Haus.

Auch ich musste nun Verantwortung übernehmen. Ich kümmerte mich um die Briefe, die uns von Behörden und sonst wem ins Haus flatterten. Kam ich aus der Schule, holte ich die Post aus dem Briefkasten, las sie durch und beantwortete sie, so gut ich konnte. War es zu kompliziert, ging meine 

Mutter damit zu einer der Sekretärinnen in ihrer Firma.

Wir besaßen wenig. Aber es fehlte uns an nichts. Im Wohnzimmer stand ein großer Schrank, dekoriert mit viel Häkelei und schimmernden Kristallgläsern. Typisch türkisch eben. Unsere grüne Couchgarnitur hatten wir am Straßenrand gefunden. Sie stand dort neben anderem Sperrmüll und wartete auf ihre Abfuhr. Doch wir waren schneller und schleppten das gute Stück Meter für Meter schwitzend zu uns nach Hause.

Unsere Mutter umsorgte uns, so gut sie konnte. Wir sollten uns ausschließlich auf die Schule konzentrieren. Kam sie müde von der Arbeit, räumte sie auf, putzte, kaufte ein, kochte, machte unsere Pausenbrote für den nächsten Tag. Ohne jemals zu murren. „Ich war sowieso kaputt von der Arbeit, da konnte ich zu Hause auch noch weitermachen“, hat sie mir später einmal gesagt.

Meine Mutter war das älteste Mädchen in ihrer Familie und durfte nicht zur Schule gehen wie ihre Geschwister. Während ihre Brüder und Schwestern in der Schule waren, musste sie putzen, die Wäsche machen, kochen. Sie lernte nie lesen und schreiben und führte das Leben einer Dienstmagd. Mein Vater war Standesbeamter in der Türkei. Meine Mutter hatte gehofft, sich durch die Heirat von ihrem familiären Joch zu befreien, aber das dauerte. Er ging 1969 voraus nach Deutschland und ließ sie schwanger zurück. Sie gebar einen Jungen, doch schon bald wurde er schwer krank. Meine Mutter wünschte sich damals nichts sehnlicher als einen Arzt im Dorf. Oder noch besser: einen Arzt in der Familie. Fikret starb mit nur zehn Monaten.

Als meine Mutter zwei Jahre später endlich in Neuss eintraf, kam sie allein. Korkmaz, den Zweitgeborenen, hatte sie in der Obhut ihrer Eltern gelassen. Auch er starb jung. Mit nicht einmal vier Jahren bekam er einen bösartigen Tumor im Mund.

In Deutschland wollte meine Mutter endlich selbstständig sein, um jeden Preis, und suchte sich rasch Arbeit – bei Pierburg, einem Autozulieferer in Neuss. Bis zu ihrer Rente würde meine Mutter dort am Fließband stehen, 47 Jahre lang, um Vergaser und Autoteile herzustellen. Und mit ihrer beider Verdienst konnten meine Eltern zum ersten Mal eine eigene Wohnung beziehen. Endlich war meine Mutter niemandes Dienstmagd mehr.

Doch all die Schicksalsschläge waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie entwickelte eine Depression. So würde man es heute nennen. Damals, in den 70er-Jahren, wurde die Erkrankung noch nicht als solche erkannt und schon gar nicht fachgerecht behandelt. Immer wieder ging es meiner Mutter so schlecht, dass sie ins Krankenhaus musste. Und dort, bei diesen Besuchen, habe ich beschlossen: Ich möchte Ärztin werden.

Ich mochte das Krankenhaus. Ich spürte die Hingabe der Schwestern. Bewunderte die Erhabenheit und Selbstsicherheit, mit der die Ärzte über die blitzsauberen Flure schritten. Sog den Geruch von Desinfektionsmittel ein und erfreute mich am Anblick der weißen Kittel. Bis heute habe ich, wenn ich in meinen Arztkittel schlüpfe, für den Bruchteil einer Sekunde dieses warme, schöne Gefühl. Nennen wir es Liebe.

1972 wurde mein Bruder Ünal geboren, er ist in der Türkei aufgewachsen, 1975 mein Bruder Fikri. 1976 kam ich auf die Welt. Zwei Jahre später brannte unsere Wohnung vollständig aus. Mein Vater war mit uns Kindern daheim und eingenickt, wachte aber rechtzeitig auf und brachte uns in Sicherheit. Natürlich waren wir nicht versichert, der Sachverständige kam zu dem merkwürdigen Schluss: Jemand muss ein Bügeleisen angelassen haben. Zum Glück hatten wir einen guten Anwalt. Sein wichtigstes Argument: Ein türkischer Mann bügelt nicht.

In den ersten Jahren hatte meine Mutter keine Ahnung, dass es so etwas wie einen Kindergarten gibt, und musste irgendwelche Verwandten anbetteln, damit sich die um uns kümmerten. Als ich anderthalb war, hörte sie von Arbeitskollegen von einem Kindergarten bei uns um die Ecke – und so trat das Ehepaar Bisping in mein Leben.

Sie waren Gymnasiallehrer der Vorkriegsgeneration, nun leiteten sie den Kindergarten, streng, korrekt, fürsorglich. Plötzlich kümmerte sich jemand um uns, nahm unsere Bildung wichtig, verbesserte unsere Sprache und Aussprache. Bis heute sehe ich Frau Bisping vor mir, wie sie am Tisch sitzt und mit energischer Hand schreibt. Auf Zehenspitzen schaute ich über die Tischkante, sah groß ihre Hand und den Bleistift darin und dachte, gleich würde das Papier reißen, so fest drückte sie aufs Blatt.

Bis heute kommen mir manchmal die Tränen, wenn ich an die Bispings denke. Sie haben immer an mich geglaubt. Sie trauten mir zu, dass ich Ärztin werde. Sie öffneten mir Türen. Die strenge frühkindliche Bildung, die sie mir zuteilwerden ließen, hat meinen Lebensweg geebnet. Ordnung, Sauberkeit und Disziplin waren Werte, die beide hochhielten und uns Kindern so überzeugend vermittelten, dass sie mir in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wie viele Kinder der ersten Gastarbeitergeneration in Deutschland hatten diese Chance nicht!

Den Bispings verdanke ich die Grundzüge meiner deutschen Seite, meiner deutschen Identität. Sie legten den Grundstein dafür, dass ich mich heute als die fühle, die ich bin: Dilek Gürsoy aus Neuss.

Meine Mutter hat auch in Deutschland nicht lesen und schreiben gelernt. Aber sie war offen für das neue Land, anders als viele türkische Frauen ihrer Generation. Ich habe sie vor einigen Jahren einmal gefragt, warum. Ihre Antwort: Sie habe Deutschland nie als Durchreisestation betrachtet, sondern als ihre neue Heimat. Die Deutschen seien ihr anfangs zwar fremd gewesen, aber nur so lange, bis sie auf sie zuging, sie ansprach und sie mitunter auch um Rat und Hilfe bat. Man habe sie immer liebevoll angenommen, die Neusser hätten sie respektiert, wie sie ist. Sie habe immer Hilfe bekommen, wenn sie drum bat. Aber das müsse man auch können: jemanden um Hilfe bitten. Sie konnte das. Sie hatte immer ihren gesunden Stolz, und den ließ man ihr, so wie sie den Leuten ihren ließ.

Ja, sie war eine mutige Frau. 1973 kam es zu einem Arbeitskampf in ihrer Firma, er ging in die Geschichte ein als „Frauenstreik von Pierburg“. Mehr als zwei Drittel der 3.800 Beschäftigten waren Gastarbeiterinnen, Griechinnen und Italienerinnen, Jugoslawinnen und Türkinnen – und verdienten in einer eigenen „Leichtlohngruppe“ deutlich schlechter als die Männer. Die Forderung: die Abschaffung der Tarifgruppe und ein Mark mehr Lohn für alle.

Der Streik dauerte eine Woche, und meine Mutter war mittendrin. Als sich auch die deutschen Facharbeiter darüber empörten, dass die Firmenleitung die Streikenden nicht anhörte, nahm der Arbeitskampf eine neue Wendung – und war am Ende erfolgreich. Der Frauenstreik von Pierburg inspirierte viele Arbeiterinnen in Deutschland, für gerechten Lohn zu kämpfen. 

Das muss man sich mal überlegen: Meine Mutter war nicht nur aus der ihr zugeschriebenen Rolle als Hausfrau und Mutter geschlüpft und arbeiten gegangen, sondern machte jetzt auch noch ihren Mund für die Gleichberechtigung der Frau auf – und das laut. Auf der Straße und in der Öffentlichkeit. Das nenne ich mal Emanzipation. Meine Mutter hat sich das Recht genommen, ihre Meinung frei zu äußern, ihre Lebensumstände mitzugestalten und nicht nur alles als gegeben hinzunehmen. Ich liebe meine Mutter dafür.

Ich selbst habe mich nie als Migrantin gesehen. Ich bin Dilek Gürsoy aus Neuss, nicht mehr, nicht weniger. Ich weiß, dass viele andere Gastarbeiterkinder diese Zeit ganz anders erlebten als ich. Aber ich selbst kann mich nicht daran erinnern, wegen meiner türkischen Wurzeln, wegen meines Aussehens, meiner dunklen Haare, dunklen Augen oder kräftigen Augenbrauen jemals anders oder schlechter behandelt worden zu sein als andere Kinder. 

Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht mit anderen Kindern gestritten habe, weil ich mitspielen, mitmachen oder mitgehen wollte und das nicht durfte. Doch dabei ging es niemals darum, dass ich türkische Eltern hatte. Dass ich als Kind wegen meiner Herkunft weder Diskriminierung noch Ausgrenzung spürte, sondern mich im Gegenteil bis heute durch und durch als Neusserin fühle, also als Eingeborene, die ich dank meiner Geburt hier in der Stadt ja bin, das schreibe ich auch der in meinen Augen ganz besonderen Art der Menschen in Neuss zu. Traditionelle christliche Werte wie Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Nächstenliebe haben mich hier von klein auf geprägt und passten zu den Werten, die meine Eltern aus der religiös geprägten Kultur ihres Heimatlandes kannten und mir zu Hause mitgaben.

Nach dem Abitur schrieb ich mich für Humanmedizin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf ein – auch, um weiter bei meiner Mutter wohnen zu können. Jeden Morgen pendelte ich nach Düsseldorf, jeden Abend zurück nach Neuss.

Die Entscheidung, Herzchirurgin zu werden, fiel schon in den ersten Semestern. Als ich zum ersten Mal eine Herzoperation beobachtete, erfüllte mich eine große Ruhe. Die Operateure bewegten sich konzentriert und gelassen, von Hektik keine Spur. Es sah fast schon elegant aus, wie sie das Skalpell ansetzten und sich zum Herzen des Patienten vorschnitten. Mir gefielen die Sauberkeit, die Disziplin und die Ordnung, mit denen die Herzchirurgen ihren Job machten.

Es gibt in dieser Disziplin nicht viele Frauen. Bis heute ist es eine von Männern dominierte Domäne. Aus vielen Gründen. Auch wegen des rauen Windes, der mitunter in den OP-Sälen weht. Das konnte mich nicht abhalten. Mir war klar: Ich würde Herzchirurgin werden – und begann mein praktisches Jahr.

Begierig sog ich auf, was ich lernte. Rasch wurde ich besser. Und selbstbewusster. Das gefiel nicht allen. Einer der selbstherrlichen Oberärzte wollte mich sogar mal aus dem Saal werfen. Mein Vergehen: Ich hatte ihn, als er während der OP mit der Anästhesistin flirtete, gebeten, sich doch auf die Operation zu konzentrieren. Woraufhin er mich des Saales verwies. Ich widersprach ein weiteres Mal: Durch den Mundschutz hindurch sagte ich ihm, dass ich meiner Verantwortung dem Patienten gegenüber bis zum Abschluss des Eingriffs gerecht werde. Er musste es hinnehmen – von einer Studentin.

Nach dem Studium wurde ich Assistenzärztin an der Herzklinik in Bad Oeynhausen, geleitet von Professor Paul-Reiner Körfer. Zuvor war er an der Uniklinik Düsseldorf gewesen, als Herzchirurg und Professor, inzwischen galt er als internationale Koryphäe. Eine OP-Schwester empfahl mich bei ihm, ich stellte mich bei ihm vor, bekam den Job. Wieder stellte ich mich gut an: Einige Jahre später war ich seine rechte Hand. Beim besten Herzchirurgen Deutschlands, in der bundesweit führenden Klinik für Herzchirurgie, im Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen (HDZ NRW). Ich war angekommen.

Professor Körfers Hände waren groß. Er operierte mit ihnen ruhig, sorgfältig, geschmeidig. Er machte nie eine große Show aus dem, was er tat. Jeder Stich saß bei ihm wohlbedacht. Sein Vorgehen wirkte langsam, obwohl es schnell war. Das machte die Übung. Es sah immer ganz einfach aus. Hektik kam bei ihm unter der OP nicht auf. Ruhe war ihm wichtig. Von ihm habe ich gelernt, was ich heute kann.

Oft werde ich gefragt, was ich empfinde, wenn ich das Herz meiner Patienten direkt vor mir liegen und schlagen sehe. Ich empfinde Ehrfurcht. Ein schlagendes Herz bedeutet Leben, ein stilles den Tod. Es ist der Motor unseres Körpers. Wenn ich auf das Herz schaue, kann ich auf den ersten Blick sagen, wie es ihm bislang ergangen ist. Ob es gesund pumpt, ob es ungesund vergrößert, verfärbt oder verfettet ist, Narbengewebe aufweist, das auf Infarkte schließen lässt, oder ob seine Herzkranzgefäße Anzeichen von Verkalkung zeigen. Manchmal ist es nötig, das Herz aus dem Brustkorb zu heben und in den eigenen Händen zu halten. Dann liegt das Leben eines Menschen in meinen Händen. Er hat es mir anvertraut. Ich werde dieses Vertrauen rechtfertigen.

Im OP-Saal bin ich die Ruhe in Person. Ehe die Operation losgeht, befolge ich ein festgelegtes Ritual. Es beginnt mit der Hygiene. Ich lege meine Ohrringe ab, ehe ich meine Haare unter der OP-Haube verschwinden lasse. Verzichte auf Wimperntusche, sie könnte im Laufe des Tages abbröseln und in meinen OP-Bereich fallen. Halte meine Fingernägel kurz und trage keinen Nagellack. 

Wenn alles bereit ist, gehe ich zum Waschen. Ich seife mir Hände und Arme bis zum Ellenbogen ein, lasse die Seife wirken und wasche sie anschließend ab. Dann trockne ich mich ab. Die Haut sollte ein paar Minuten gründlich trocknen, damit Restfeuchte nicht das Sterillium verdünnt, mit dem ich Hände und Arme bis über den Ellenbogen mindestens fünf Minuten lang einreibe. Sterillium ist ein in der Chirurgie bewährtes Desinfektionsmittel, das sofort und über mehrere Stunden hinweg gegen Bakterien, Hefepilze und behüllte Viren wie SARS-CoV-2 wirkt.

Dann gehe ich wieder hinein, lasse mich von der sterilen OP-Schwester steril anziehen, wende mich dem Patienten zu und wasche seine Brust mit Desinfektionsmittel ab. Respektvoll, ruhig, systematisch: Ich beginne beim Kinn und wasche zuerst die Mitte, dann die Seiten. Von den Seiten wische ich nicht mehr zurück zur Mitte. So hat man es mir beigebracht. Nur so wird das Infektionsrisiko minimiert.

Schließlich wird der Patient abgedeckt, mit sterilem, blauem Tuch. Ich sehe jetzt nur noch das Operationsgebiet. Am Tag zuvor habe ich den Patienten kennengelernt, nach der OP werde ich ihn in seinem Zimmer besuchen. Aber nun anonymisiert das Abdecken die Person. Die Operation wird nun zum Handwerk, vielleicht auch zur Kunst – zu einem objektiven Vorgang jedenfalls, losgelöst von jeder Bindung. 

Und dann setze ich den ersten Schnitt.

Viele haben mich gefragt, worüber wir im OP-Saal so reden, wenn wir für Stunden dort gemeinsam operieren. Bei mir dreht sich das Gespräch oft um Fußball. Schon immer habe ich gern Fußball geschaut, seit jeher bin ich Fan von Borussia Mönchengladbach. 2011 bin ich Vereinsmitglied geworden und hatte lange eine Dauerkarte im Borussia-Park. Anfang der Woche werteten wir die Spiele aus und hatten Gesprächsstoff für Stunden.

Seit 2010 beteilige ich mich als Chirurgin an der Entwicklung neuer Kunstherzsysteme. Auch hier arbeite ich wieder mit Professor Körfer zusammen sowie einer Firma aus Aachen. Kunstherzen einzusetzen ist kompliziert. Ich bin die erste Frau in Europa, die diese Operation gemacht hat. In Deutschland, wie in den meisten Industriestaaten, herrscht Organmangel. Viele Patienten sterben, während sie auf ein Spenderherz warten. Das Ziel der Kunstherzforschung: die Herztransplantation zu ersetzen.

Derzeit gibt es zwei klinisch zugelassene Kunstherzmodelle, eines stammt aus den USA und wurde schon vor Jahrzehnten entwickelt. Es wird pneumatisch betrieben, also mit Luftdruck, und ist so laut wie ein Wasserkocher. Aus der Brust kommen Kabel, sie führen zu einer Maschine, die der Patient ständig mit sich herumträgt, schwer wie drei Telefonbücher. Fast jede Woche fahre ich ins Tierlabor, um Schafen ein Kunstherz einzusetzen – der beste und einzige Weg, um diese Systeme fortzuentwickeln.

Und dann bin ich über Nacht bekannt geworden. 2017 erschien ein Artikel über mich in der „Rheinischen Post“. Nicht lange, da saß ich in der Talkshow von Markus Lanz. 2019 wurde ich zur „Medizinerin des Jahres“ gekürt, 2020 habe ich meine Privatpraxis in Düsseldorf eröffnet, seit Februar 2021 bin ich Chefärztin der Herzchirurgie in einer Privatklinik, der Clinic Bel Etage. Gemeinsam mit der Journalistin Doreen Brumme habe ich meine Autobiografie geschrieben. Sie heißt „Ich stehe hier, weil ich gut bin“ und ist im Verlag Eden Books erschienen.

Ich war mein ganzes Leben umgeben von starken Frauen. Ich habe lernen müssen, dass es selbstbewusste Frauen mit einer klaren Vision doppelt schwer haben, ihren Platz zu finden – und möchte alles daransetzen, junge Frauen zu fördern. Ich habe es meinen Eltern, vor allem meiner starken Mutter Zeynep zu verdanken, dass ich als Herzchirurgin meinen Weg gehe. 

Zeynep Gürsoy, meine Mutter, konnte nicht lesen und schreiben und stand 47 Jahre als Arbeiterin am Band. Ich bewundere sie. Ihr Vorbild ermutigt mich. Sie spornt mich an, die Chancen zu ergreifen, die dieses Land uns bietet, und das Beste daraus zu machen. 
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