Serap Güler

„Wir haben die Pflicht, die Geschichte unserer Väter und Mütter zu erzählen“

Der Vater: Kohlekumpel. Die Tochter: Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen. Klug erzählt Serap Güler, wie sie zwischen zwei Welten aufgewachsen ist. Beide Seiten zerren an dir, beiden Seiten willst du es recht machen. Und musst lernen, dich zu arrangieren.

Serap Güler, geboren am 7. Juli 1980 in Marl, ist Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Nach einer Ausbildung im Hotelwesen absolvierte sie ihr Studium der Kommunikationswissenschaft und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen mit dem Abschluss Magistra Artium. 2012 wurde sie Mitglied des Landtags in Nordrhein-Westfalen. Im selben Jahr wurde sie in den CDU-Bundesvorstand gewählt und später mehrfach wiedergewählt. Sie war Referentin im Ministerbüro des damaligen Integrationsministers Armin Laschet, 2017 wurde sie Staatssekretärin für Integration in dessen Kabinett.
Fast 40 Jahre unter Tage ohne einen Tag krank“, war einer der Lieblingssätze meines Vaters, wenn er über seine Zeit als Bergmann redete. Ich habe mich darüber immer gewundert. Wie kann man so viele Jahre unter Tage arbeiten und nie krank sein?

Irgendwann habe ich ihn darauf angesprochen. Natürlich habe es Wochen gegeben, in denen es ihm nicht gut gegangen sei und er wohl krank gewesen sei, sagte er. Er sei dann aber trotzdem zur Arbeit gegangen. Nur einmal habe er versucht, sich krankschreiben zu lassen. Er ging zum Betriebsarzt der Zeche und schilderte ihm seine Beschwerden. Doch der Arzt wollte davon nichts wissen, und er brauchte keinen medizinischen Befund für sein Urteil. Er schaute meinen Vater an und sagte, er solle sich nicht so anstellen, er sehe nicht krank aus und könne arbeiten. Mein Vater nickte und ging zur Schicht. 

Habe ihn das nicht wütend gemacht, dieses Desinteresse, fragte ich ihn daraufhin. „Eher traurig“, sagte mein Vater. „Traurig, weil mir der Arzt unterstellte, ich hätte gelogen.“ Welch Gleichmut. Ein Arzt kam seinem hippokratischen Eid nicht nach, und mein Vater reagierte mit Trübsinn statt Wut. 

Und das ist nur eine Geschichten von so vielen. Die mein Vater erzählen kann, die all die Väter und Mütter erzählen können, die sich aufgemacht haben in dieses Land. Trotzdem nehmen sie Deutschland diese Benachteiligung nur selten übel. Wegen des Geldes, das sie hier verdient haben und das ihnen ein Leben ermöglichte, das sie in ihrer Heimat nie hätten haben können. Und wegen uns, ihrer Kinder und Enkelkinder. Weil wir die Möglichkeit hatten, in Deutschland aufzuwachsen, hier zur Schule zu gehen, vielleicht zu studieren. 

Sie wissen, dass auch uns nichts geschenkt wurde. Aber sie vertrauen beharrlich auf die Chancen, die sich uns eröffnen könnten, hoffen, dass wir sie nutzen und es einmal besser haben als sie. Und ignorieren nur allzu bereitwillig eigene Mühsal und Benachteiligung. 

Wir mussten früh erwachsen werden, wir Gastarbeiterkinder. In einem fort mussten wir helfen, erklären, übersetzen, beim Arzt, in der Schule, in der Ausländerbehörde. Unsere Eltern sprachen kein Deutsch, wir haben es mühelos gelernt. Bald wurde uns klar, dass wir beim Übersetzen lieber filtern. Um uns selbst zu schonen, an Elternsprechtagen oder wenn wir etwas ausgefressen hatten. Um sie zu schonen, unsere Gastarbeitereltern, um sie vor Kränkungen zu bewahren. Zigfach ließen wir es unübersetzt, wenn jemand Spitzen gegen sie austeilte, wegen ihrer „mangelnden Anpassungsgabe“, ihrer „miserablen Sprachkenntnisse“ oder weil etwas „bei uns in Deutschland“ nun mal so war. 

Als Gastarbeiterkinder sind wir aufgewachsen. Das hat uns geprägt, unseren Habitus, unser Tun, unsere Haltung. Gastarbeiterkinder, die nicht kamen, um zu bleiben, sondern kamen, um wieder zu gehen, wenn die Arbeit der Eltern zu Ende ist. 

Der Mensch plant, Gott lacht, heißt es. In diesem Fall muss er schallend gelacht haben. Kaum einer von unseren Eltern ist gegangen. Die 10.000-Mark-Rückkehrprämie, von Kanzler Kohl Anfang der 80er-Jahre ausgelobt, hat kaum einen Gastarbeiter zum One-Way-Ticket in die alte Heimat verführt. Die meisten blieben. Und mit ihnen wir. 
Meine Generation ist eine Generation voller Konflikte. Zwei Seiten zerrten an uns. Jede Seite forderte ihr Recht. Für keine Seite wollten wir uns entscheiden, wollten weder unsere Eltern enttäuschen noch unsere Lehrer, Mentoren, Nachbarn.
„Kofferkinder“ nannte man uns. Denn wir sind auf niemals ausgepackten Kisten groß geworden. „Wenn dein Vater in Rente geht, kehren wir zurück“, lautete die Legende, die uns unsere Eltern erzählten. Sie wurde nie wahr. Mein Vater, den ich vor Kurzem verloren habe, blieb nach seiner Rente noch über 20 Jahre in seiner neuen Heimat, in Deutschland. Jetzt erst, nach seinem Tod, kehrte er zurück. Er wollte dort begraben werden, wo er geboren wurde – ein Wunsch, den viele in seiner Generation hatten und haben. Ein Wunsch, der uns, die zweite Generation, stets daran erinnern wird, wo unsere Wurzel liegen.

Die Geschichte der Gastarbeiter ist eine Geschichte doppelten Nichtwollens. Die Deutschen wollten uns auf Dauer nicht haben. Die Türkinnen und Türken wollten auf Dauer nicht bleiben. So bemühte sich keine der beiden Seiten um ein gelingendes Ankommen. Die Ankunft in dieser Gesellschaft ergab sich irgendwann aus Zufall oder Notwendigkeit. Weil es irgendwann nicht anders ging, als dass man sich aufeinander einließ. 

Zugleich wurde die alte Heimat fremder, ja es kam der Tag, an dem wir Deutschtürken uns Deutschland näher fühlten als der Türkei. Das Dorf, das die Eltern in den 60er-Jahren verlassen hatten, war immer weniger das Dorf, das sie bei ihren Besuchen vorfanden. Nicht nur geografisch hatten sie sich entfernt, auch innerlich. Und umgekehrt genauso: Verstanden einen noch die Dörfler? Wollten sie wirklich, dass man für immer heimkam? Sie profitierten schließlich davon, wenn man im „Gurbet“ lebte, in der Fremde, Geld schickte, Häuser baute, die Wirtschaft im Ort antrieb. 

Heute, 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, sind wir Gastarbeiterkinder für viele ein Vorbild, wir sind Ablas und Abis, Lotsinnen und Lotsen für jene, die nach uns kommen. Wir loben die Generationen nach uns, weil sie so viel stärker und mutiger sind, als wir es je waren. Wir schimpfen mit ihnen und über sie, weil sie ihre Chancen nicht ausreichend nutzen. Chancen, für die wir kämpfen mussten. Die Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen. Wie schwer war das früher. Wie leicht ist es heute. Macht etwas draus! 

Meine Generation – ich wurde 1980 geboren – ist eine Generation voller Konflikte. Wer sind wir? Wo gehören wir hin? In Deutschland waren wir die Türken, in der Heimat die „Almancis“, die mit dem Ruf von neureichen Bauernlümmeln leben mussten. Das Bikulturelle gilt heute vielerorts als Bereicherung. In unserer Kindheit und Jugend war es eine Bürde. 

Zwei Seiten zerrten an uns. Jede Seite forderte ihr Recht. Für keine der beiden Seiten wollten wir uns entscheiden. Wollten wir doch weder die Eltern enttäuschen noch jene Lehrer, Mentoren oder Nachbarn, die große Stücke auf uns setzten. 

Unsere Rettung war die Zeit. Wir lernten, uns zu arrangieren, entdeckten jene verschlungenen Wege, auf denen wir den Erwartungen beider Seiten gerecht werden konnten. Auch der Zeitgeist kam uns entgegen: Beide Seiten wurden milder und empfänglicher für „das Fremde“, das immer weniger fremd war. 

Eines aber hat sich nicht geändert: Bis heute sprechen wir für unsere Eltern, erzählen von unseren Eltern, erklären ihr Leben. Wir müssen diese Auskunft geben, denn wenn wir es nicht machen, tut es niemand. Viel zu wenig ist unsere Einwanderungsgeschichte bekannt, viel zu selten wird darüber gesprochen. 

Die Geschichte der Gastarbeiter findet kaum statt im Geschichtsunterricht, ihr wurde kein Museum gewidmet, nur eine unscheinbare Plakette an Gleis 11 am Münchener Hauptbahnhof, auf dem anfänglich die meisten Gastarbeiter ankamen. Zu erwähnen, dass das deutsche Wirtschaftswunder auch den Millionen Gastarbeitern zu verdanken ist, wäre eine Wertschätzung dieser Menschen und ihrer Leistung. 

Womit wir uns als Gesellschaft lieber beschäftigen, angefangen beim ehemaligen Bundespräsidenten Gauck, ist die Frage: Wie kann es sein, dass die Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben, immer noch kein Deutsch sprechen? Ein als Frage getarnter Vorwurf, aus dem Ignoranz, Desinteresse und Unkenntnis sprechen. Bei einem Otto Normalbürger ist ein solcher Fehltritt hinnehmbar, für einen Bundespräsidenten ist er peinlich. 

Wie lebten sie denn damals, die Gastarbeiter? Vielleicht in Männer- und Frauenheimen, mit Fremden, die dieselbe Sprache sprachen, aber noch lange keine Familie ersetzten. Harte und lange Schichten am Band, auf dem Bau oder unter Tage, nach denen sie müde waren und zerschlagen. Wer nicht nur den eigenen Bauch, sondern auch andere Bäuche füllen muss, nicht nur seine Träume, sondern auch andere Träume erfüllen will, muss mehr arbeiten als nur für sich. Überstunden, Doppel- oder Wochenendschichten waren an der Tagesordnung. 

Wann hätten diese Menschen Deutsch lernen sollen? Es waren keine Akademiker, die man sich ins Land holte, sondern junge, kräftige Männer mit geringem Bildungsstand, die nicht denken, sondern arbeiten sollten. Die wenigen Deutschkurse, die man ihnen anbot, bezogen sich auf ihren Job, man lernte dort die Namen von Werkzeugen, aber kein flüssiges Alltagsdeutsch. Ganz zu schweigen von den „Türkenklassen“ für uns Kinder – mit einem Lehrer, den das Türkische Generalkonsulat entsandt hatte, damit dieser „türkische Kinder“ auf Türkisch unterrichten und sie auf die „Resozialisation“ in der Türkei vorbereiten sollte. 

Mein Vater kam 1963 aus einem Dorf an der Schwarzmeerküste. Er war damals 24 und gelernter Bergmann. Er kam nach Deutschland, um hier weiter Kohle zu scheffeln, für Deutschland und für sich. Als jüngstes von fünf Kindern und noch dazu als einziger Sohn hatte er seinem skeptischen Vater versprechen müssen, nach spätestens sechs Monaten zurückzukehren. Er nahm dieses Versprechen ernst. Und hat es nie halten können. 

Seine Rechtfertigung, die einzig mögliche Erklärung: der Blick in die Lohntüten. Die Menschen verdienten in Deutschland viel mehr, als sie daheim je bekommen hätten. Das war der Grund, warum sie ihr Wort brachen und blieben. Und es war der Grund, warum man ihnen den Wortbruch verzieh. Schließlich verdienten sie das Geld nicht für sich allein, sondern für die Familie, die kein Geheimnis machte aus ihrer Erwartung, am Monatsende einen Teil des Geldes zu sehen. 

Die Geschichte der Gastarbeiter ist neben all dem auch eine Geschichte der Dankbarkeit. Unsere Eltern hatten es so schwer – und sie waren so dankbar. Meine Generation ist viel kritischer, sie hält die Segnungen dieses Landes für selbstverständlich. Ganz anders unsere Eltern: Kritik an Deutschland wird in kaum einer anderen Generation so verurteilt wie von ihnen. 

Wir Nachkommen, ganz gleich welcher Herkunft, stehen in ihrer Schuld. Wir schulden ihnen Wertschätzung und Anerkennung. Wir haben die Pflicht, ihre Geschichte zu erzählen. Unsere Mütter und Väter verdienen es, endlich eine Rolle zu spielen – gesellschaftlich, kulturell, politisch. 

Die Geschichte meines Vaters beim Betriebsarzt macht deutlich: Wir können solcherlei wiedergutmachen, indem wir das Gesundheits- und Pflegesystem diesen Menschen kultursensibel öffnen. Nein, sie werden auch im Rentenalter nicht beginnen, die deutsche Sprache zu lernen. Und das ist in Ordnung. Lasst sie uns nehmen, wie sie sind, uns einlassen auf ihre Sprache und ihre Gepflogenheiten. Es gibt gute Ansätze und Modelle dafür, es müssen schnell mehr werden. 

Unsere Eltern sind alt geworden. Sie werden immer weniger. Ihnen ihren Platz in der Geschichte zu geben, sie zu sehen, ihnen zu danken, das ist unser aller Aufgabe. Lasst uns reden über die jüngere Geschichte dieses Landes. Über die Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland.
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