Belit Onay

„Zurück nach Istanbul? Meine Heimat war Goslar!“

Als Kind dachte er, er sei wie alle anderen Kinder. Doch dann kam Solingen, der entsetzliche Brandanschlag, der fünffache Mord. Danach schaute Belit Onay mit anderen Augen auf die Welt. Heute ist er Oberbürgermeister von Hannover und verfolgt ein visionäres Programm: mehr Teilhabe, weniger Autos.

Belit Onay, geboren am 15. Januar 1981 in Goslar, ist Oberbürgermeister von Hannover. Im November 2019 gewann er die Stichwahl für die Grünen und wurde der erste deutsche Großstadt-OB, dessen Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren. Von 2013 bis 2019 war er Mitglied des niedersächsischen Landtags und vertrat die Grünen-Landtagsfraktion als Sprecher für Innenpolitik, Kommunalpolitik, Migration und Flüchtlinge, Sport, Netzpolitik und Datenschutz sowie als Ansprechpartner für islamische Verbände. Von 2011 bis 2014 war er Ratsherr in Hannover und stellvertretender Vorsitzender der grünen Stadtratsfraktion. Ende 2019 wurde er in das Präsidium des Deutschen Städtetages gewählt.
Meine Eltern besaßen ein Restaurant, das Marmaris in der Breiten Straße, in einer dieser schönen, von Fachwerk gesäumten Altstadtgassen – in Goslar, dem beschaulichen UNESCO-Welterbe-Juwel am Rande des Harzes. Und sie besaßen mehrere Stände, für Döner, Bier, Bratwurst, die sie bei Märkten und Festen aufbauten. Weil sie das Restaurant hatten, war bei uns ohnehin immer viel los am Wochenende. Aber die Feste bedeuteten Ausnahmezustand.

Mittelaltermarkt, Walpurgisfest, Weihnachtsmarkt und, besonders krass, das Altstadtfest im September: ein Flohmarkt, eine Fressmeile, Bühnen und Bands. Zehntausende schoben sich durch die Gassen von Goslar. Drei Tage Halligalli, nach denen ich die jeweils aktuellen Schlager vorwärts und rückwärts im Schlaf singen konnte.

Der Ansturm begann nachmittags, aber wir waren um sieben Uhr auf den Beinen. Damit es abends lief, mussten wir tagsüber alles richtig machen. Die Gläser bereitstellen, die Bierfässer kühlen, den Schwenkgrill anheizen, einkaufen, putzen, vorbereiten. Und dann wurde bis Mitternacht durchgearbeitet.

Von klein auf hatte ich meinen Eltern im Restaurant geholfen, mit spätestens 14 war ich fester Bestandteil des Teams und musste Verantwortung übernehmen. Ich war ja der Sohn des Chefs. Wenn mein Vater nicht da war, lag es an mir, die Ansagen zu machen. Keine Cola mehr? Das Fleisch ist alle? Dann musste ich entscheiden, was zu tun war, beim Händler anrufen und den Lieferschein unterschreiben.

All das hat uns zusammengeschweißt, meine Eltern, meine Schwester und mich. Dieses gemeinsame Anpacken. Das war die Grundhaltung bei uns in der Familie: Wir sitzen im selben Boot, alle fassen mit an – und los, mitten rein in die Wellen, damit wir gut am anderen Ufer ankommen. Dieser Teamgeist hat mich geprägt.

Wir wohnten über dem Restaurant. Wenn ich an unsere Wohnung denke, denke ich als Erstes an das riesige Wohnzimmersofa. Das war Hüpfburg, Fußballtor, Kuschelstelle in einem. Und ich denke an unseren Küchentisch, an dem wir unzählige Stunden verbracht haben. Meine Mutter war eine exzellente Köchin, und weil Liebe nun mal durch den Magen geht, wurde sie nicht müde, die tollsten Gerichte für uns zuzubereiten. Stundenlang haben wir dort zusammengesessen, diskutiert, Pläne geschmiedet.

Meine Eltern sind 1972 aus Istanbul nach Goslar gekommen, mein Vater arbeitete im Rahmen seiner Ausbildung im Hotel Kaiserworth. Danach hat er in einem griechischen Restaurant gekellnert, 1989 eröffneten meine Eltern ein eigenes Restaurant, das Marmaris. 

Mein bester Kindheitsfreund hieß Alexander, wir besuchten dieselbe Klasse. Er ging bei uns aus und ein, genau wie ich bei ihm. Oft hat er mit angepackt bei uns. Einmal, wir waren vielleicht elf, haben wir uns für den Mittelaltermarkt als Jungen aus dem Morgenland verkleidet, mit Pluderhose, Turban, Krummsäbel. So streiften wir umher zwischen den Gauklern, als plötzlich jemand ankam und sagte, das Klopersonal sei ausgefallen, und fragte, ob wir aushelfen könnten. Na klar konnten wir, also saßen wir beiden Knirpse in unseren Sindbad-Klamotten tagelang in der Klohütte und haben abkassiert.

Einen Stundenlohn oder dergleichen habe ich nie bekommen. Auch kein Taschengeld. Aber klar haben uns meine Eltern viele Wünsche erfüllt. Ich war ziemlich stolz, als ich der Erste in der Schule war, der in Air Jordans herumlief, den damals angesagten, sauteuren Turnschuhen von Nike. Und als Handys aufkamen, hatte ich bald ein Siemens S6 in der Tasche, diesen legendären Telefonbackstein mit Antenne.

In diese unbeschwerte Kindheit platzte am 29. Mai 1993 die Nachricht vom fünffachen Mord in Solingen.

Ich war zwölf. Bis dahin hatte ich mir nie Gedanken gemacht, ob es wichtig ist, woher ich stamme. Es spielte einfach keine Rolle, und wenn doch, dann war es eine Bereicherung. Wir sprachen daheim Türkisch, schon als Kind durfte ich allein nach Istanbul zu unseren Verwandten fliegen, meine Mutter kochte anders als Alex’ Mutter, er mochte unser Essen, ich ihres. Zu Weihnachten und Ostern gingen meine Eltern mit uns in die Kirche, damit wir auch diesen Teil der deutschen Kultur kennenlernten. Ich fand es interessant, in zwei Welten zu Hause zu sein. Es war normal.
Der türkische Botschafter riet öffentlich, sich Feuerlöscher zu besorgen und die Türen fest zu verschließen, es seien weitere Anschläge zu befürchten. Bundeskanzler Helmut Kohl weigerte sich, zur Trauerfeier in Solingen zu gehen, wie schon im Jahr zuvor nach Mölln. Damals erklärte sein Sprecher, man wolle keinen „Beileidstourismus“ betreiben.
Und nun das: Vier betrunkene Männer zwischen 16 und 23 aus dem Umfeld der Solinger Neonaziszene hatten sich nach einer Feier Benzin besorgt und waren in den Flur eines Zweifamilienhauses eingedrungen, in dem Familie Genç lebte. Sie übergossen eine Truhe mit Benzin, formten eine Zeitung zu einer Fackel und zündeten die Truhe an. Bald stand das Treppenhaus in Flammen.

Es war eine tödliche Falle. In dem Inferno starben fünf Menschen, unter ihnen die 27-jährige Gürsün İnce und die vier Jahre alte Saime Genç, als sie sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten wollten. 17 Menschen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt.

Für mich war das ein Schockmoment. Ich habe zum ersten Mal begriffen, dass es in Deutschland sehr wohl eine Rolle spielt, woher Menschen kommen, wie sie heißen, welche Hautfarbe sie haben. Ich machte mir Sorgen: Wir wohnten über unserem Restaurant in der Altstadt, für alle sichtbar. Wenn es jemand in Goslar auf eine türkische Familie abgesehen hatte, waren dann nicht wir die erste Adresse?

Der türkische Botschafter riet öffentlich, sich Feuerlöscher zu besorgen und die Türen fest zu verschließen, es seien weitere Anschläge zu befürchten. Bundeskanzler Helmut Kohl weigerte sich, zur Trauerfeier in Solingen zu gehen, wie schon im Jahr zuvor nach Mölln. Damals erklärte sein Sprecher, man wolle keinen „Beileidstourismus“ betreiben. Meine Tante aus Istanbul rief an und fragte besorgt, was in Deutschland los sei.

Meine Eltern saßen am Küchentisch und rätselten, was das alles bedeutete. War es ein einmaliges Ereignis? Begann jetzt eine neue Zeit? Wenn sich die Verhältnisse weiter verschlechterten, was hieß das für uns Kinder? Müsse man dann nicht langsam darüber nachdenken, zurück nach Istanbul zu gehen?

Ich wurde hellhörig. Zurück nach Istanbul? Das hätte für mich bedeutet: weg von zu Hause. Meine Heimat war Goslar, sosehr ich Istanbul liebte, ich wollte auf keinen Fall weg.

Das war ein Knacks. Als mir klar wurde: Du denkst zwar, du bist wie alle anderen, aber einige denken das offenbar nicht. In ihren Augen bist du offenbar nicht normal. Ab da war ich ein politischer Mensch. Ich habe viel nachgedacht: Was ist deine Rolle in Deutschland? Wer bist du hier? Was ist Rassismus? Was ist Identität?

Mein Engagement begann ganz praktisch: Zusammen mit Freunden organisierte ich ein Basketballturnier gegen Rassismus. Auf dem Basketballfeld geht es bekanntlich sehr gemischt zu, Jungs und Mädels aus allen Nationen kommen zusammen, aus aller Herren Länder. Sogar die Polizei hat uns bei der Organisation des Turniers unterstützt.

Kurzzeitig engagierte ich mich bei den Jusos, weil ich Gerhard Schröder gut fand und mich die Provokationen von Robert Koch nervten, der damals für die CDU diese wahnsinnig diffamierende Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft führte.

Zum Jurastudium ging ich nach Hannover. Goslar ist eine schöne, behütete Kleinstadt, es wurde Zeit für einen Tapetenwechsel. Das Jurastudium gefiel mir, ich mochte die Abstraktion, die Systematik. Und mir gefiel das Miteinander an der Uni. Die Lerngruppen, das gemeinsame Büffeln in der Bibliothek, um danach gemeinsam mit Freunden auf dem Rasen vor dem Café Hanomacke in der Sonne zu sitzen und das Campusleben zu genießen.

Derweil engagierte ich mich im Asta, wurde Vertreter der ausländischen Studierenden und hatte dabei vor allem eines im Sinn: Gräben überwinden, Kulturen verstehen, Menschen zusammenbringen. Wir begründeten den Internationalen Studierendenkreis, in dem sich bald junge Leute aus aller Welt zusammenfanden, aus der Ukraine, Georgien, der Türkei, von sonst woher, dazu viele Gastarbeiterkinder wie ich.

Wir grillten zusammen, schauten Filme, tauschten uns aus über unsere Herkunft, unsere Eltern, unsere Lebenswege. Einmal übersetzten die Ukrainer ihre Volkslieder, damit alle mitsingen konnten, ein anderes Mal organisierten wir ein gemeinsames Fastenbrechen am Ende des Ramadan. Eine herrliche Zeit. Viele aus dem Kreis wurden zu Freunden, zu vielen habe ich bis heute Kontakt.

Inzwischen war ich Mitglied bei den Grünen. Als ich mich nach dem ersten Staatsexamen auf Jobsuche machte, stolperte ich über eine Stellenanzeige der grünen Landtagsabgeordneten Filiz Polat. Sie suchte einen Büroleiter mit türkischen Sprachkenntnissen. Ich bewarb mich, bekam den Job und hätte mir keinen besseren Start in die Politik wünschen können. Filiz zeigte mir, was es heißt, Themen zu setzen und dafür Mehrheiten zu gewinnen.

2011 wurde ich Ratsherr in Hannover, 2013 wurde ich in den niedersächsischen Landtag gewählt und war in der Fraktion unter anderem Sprecher für Innenpolitik, Migration und Netzpolitik.

2019 entschloss ich mich, als Oberbürgermeister in Hannover zu kandidieren. Mich störte die Mutlosigkeit, mit der die Stadt regiert wurde. Seit Kriegsende war sie in der Hand der SPD, das führte zu einigen Verkrustungen. Ich fand, dass die Stadt viel zu wenig aus ihren Möglichkeiten machte.

„Wagen wir den Aufbruch“, lautete das Motto meiner Wahlkampagne. Auf einem Wahlplakat stehe ich mit dem Fahrrad neben einer dieser Verkehrsschneisen, die nach dem Krieg durch die „autogerechte Stadt“ Hannover geschlagen wurden. Mein Versprechen: den Autoverkehr zügig aus der Innenstadt zu drängen, um Fußgängern und Radfahrern mehr Raum zu geben. Um die Stadt lebenswerter zu machen und den Klimawandel zu verlangsamen. So, wie es Kopenhagen vorgemacht hatte, so, wie es Paris, Madrid und viele andere Metropolen planten.

Ich versprach, mich für eine Stadt einzusetzen, die zusammenhält und jenen unter die Arme greift, die in Not geraten sind. Bessere Bildung, mehr Wohnungen, mehr Vielfalt. Wenn mich Leute auf meinen Glauben ansprachen, antwortete ich: „Ich bin ein liberaler Muslim.“ Und fügte gern hinzu: „Was London kann, kann Hannover schon lange.“

Im ersten Wahlgang gab es keine klare Mehrheit. Also kam es am 10. November 2019 zur Stichwahl. Ich erhielt fast 53 Prozent der Stimmen – und war nun Oberbürgermeister.

Am Wahlabend herrschte unglaublicher Trubel. Gefühlt eine Million Menschen wollten mich beglückwünschen. Und ich war mittendrin in diesem Film und machte einfach mit. Das war cool. Klar haben wir ordentlich gefeiert, aber es hat schon eine Weile gebraucht, bis ich realisiert habe, was da eigentlich passierte.

Am nächsten Tag ging es dann gleich ziemlich hart los. Ein Migrant, ein Muslim regierte Hannover – in den sozialen Medien beschwor man den Untergang des Abendlandes. Ich machte am Morgen mein Handy an und konnte nicht recht glauben, was ich da sah. All dieser Hass, der dort ausgekübelt wurde, all die Drohungen gegen mich und meine Familie. Es spielt also immer noch eine Rolle, woher du kommst. Als Erstes habe ich meine Pressemitarbeiterin angerufen. Und als Nächstes die Polizei.

Doch das Angebot, mich von Personenschützern begleiten zu lassen, habe ich abgelehnt. Das wollte ich nicht. Ich hätte mich einschränken, mein Leben umstellen müssen. Es hätte sich angefühlt wie nachgeben.

Sonntag: die Euphorie. Montag: die Hassbotschaften, die Polizei, der Frust. Am Dienstagmorgen ging ich zu Fuß zum Landtag und blieb an einer Ampel stehen, versunken in meiner schlechten Laune. Da wandte sich eine ältere Frau zu mir und schaute mich an.

„Sind Sie nicht der neue Bürgermeister?“

Ich nickte und rechnete mit dem Schlimmsten, aber sie lächelte und sagte: „Ich habe Sie zwar nicht gewählt, aber super, dass Sie es geschafft haben, machen Sie was draus!“

Das tat unglaublich gut. Und das erlebe ich oft im Alltag. Dass sich die Leute freuen, wenn sie mich sehen, mir winken, mich ansprechen und ein Foto mit mir machen wollen. In der realen Welt habe ich nie Probleme gehabt. Die sozialen Medien ignoriere ich. Sonst wirst du verrückt. Und Drohschreiben leite ich weiter an die Polizei.

Wo ich kann, trete ich seither für eine vielfältige, bunte Stadtgesellschaft ein. Wir brauchen mehr Chancengleichheit. Einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, ganz gleich, woher jemand kommt. Ich denke schon, dass es gerade bei vielen Jüngeren mit internationalen Wurzeln Frust gibt. Die wollen hier dazugehören, erleben aber immer wieder Diskriminierung, etwa bei der Jobsuche, oder haben es schwerer, eine Wohnung zu bekommen. Irgendwann verliert „deutsch zu sein“ dann an Reiz. Die sagen dann: „Wenn ihr Deutschen mich als Türken seht, dann sehe ich mich eben auch als Türken.“

Damit muss Schluss sein. Wir gehören alle zu Deutschland, ganz gleich, wie unser Nachname klingt. Wir haben gleiche Rechte und Pflichten. Wir brauchen Teilhabe und Respekt. Wir brauchen ein Miteinander, kein Gegeneinander.

Ich mag nicht die Härte, mit der manche Identitätsdebatte heute geführt wird, auch da brauchen wir einen anderen Ton. Ja stimmt, für die einen ist Herkunft wichtiger als für andere, Migrant:innnen sind nicht homogen, das muss man erst mal akzeptieren. Aber wir sollten immer von einer gemeinsamen Zukunft ausgehen, nicht von einem Gegeneinander. Wir sollten das betonen, was uns verbindet, nicht das, was uns trennt.

Gut, dass es das Anwerbeabkommen gegeben hat. Es hat viele Lebenswege und auch dieses Land geprägt. Aber wir dürfen nicht stehen bleiben, wir müssen weitergehen. In der Pandemie wurde es überdeutlich: Armut korreliert viel zu häufig mit einer Migrationsbiografie. Wir müssen Teilhabe ermöglichen, die Chancen dieses Landes allen zugute kommen lassen. Dieser Weg ist durch Corona wieder länger geworden. Wir müssen ihn trotzdem gehen.

Doch ich bin optimistisch, wenn ich sehe, wie viele junge Menschen sich heutzutage für unsere Gesellschaft und unsere Zukunft einsetzen. Wir brauchen diese engagierten Generationen für eine lebenswerte Zukunft. Auch um die Stabilität unserer Demokratie zu stärken, müssen wir das Interesse an Politik unterstützen. Und weil es eben auch darum geht, gesellschaftliche Realitäten abzubilden, ist es so wichtig, dass sich auch Menschen mit Migrationsgeschichte engagieren. Gerade in der Politik müssen wir Diversität noch viel stärker fördern und fordern!

Wir müssen den Blick nach vorne richten und die Weichen für eine gemeinsame Zukunft neu stellen!
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