„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Mit diesen oft zitierten Worten fasste der Schriftsteller Max Frisch die Lage der Gastarbeiter:innen und ihre Schicksale in der jungen Bundesrepublik treffend zusammen. Die Gastarbeiter:innen der ersten Stunde waren Pioniere. Sie haben unser Land in den Nachkriegsjahren geprägt. Mit einem Holzkoffer in der Hand und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, kamen sie zunächst am Münchner Hauptbahnhof an, ohne zu ahnen, dass die meisten von ihnen in Deutschland alt werden und dass eines Tages ihre Enkelkinder und deren Kinder in diesem für sie zunächst so fremden Land aufwachsen würden.
Mit einer Unterschrift in Bonn fing alles an. Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten die Bundesrepublik und die Republik Türkei ein Abkommen für die Anwerbung von Arbeitskräften. In dem zweiseitigen Dokument, viel kürzer als ein Arbeitsvertrag, regelte das Auswärtige Amt mit der türkischen Botschaft die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland. Ein historischer Tag, der die Republik verändern sollte. Doch an jenem Montag vor 60 Jahren konnte niemand ahnen, wohin die Reise gehen würde, weder in der Türkei noch in Deutschland.
Anfang der 50er-Jahre brummte die Wirtschaft. Der Wiederaufbau und die steigende Industrieproduktion erhöhten in Nachkriegsdeutschland den Bedarf an Arbeitskräften: im Bergbau und in der Landwirtschaft, für den Straßen- und Brückenbau und in der Industrieproduktion. Ende 1955 unterzeichneten Deutschland und Italien das erste „Gastarbeiterabkommen“. Damit kamen zunächst italienische Arbeiter nach Deutschland, um den steigenden Bedarf an Arbeitskräften in Zeiten des Wirtschaftsbooms zu decken.
Das Abkommen markierte den Beginn der Einwanderung von Hunderttausenden ausländischen Arbeitnehmer:innen in den Folgejahren. Fünf Jahre später schloss Deutschland ein Doppelabkommen mit Spanien und Griechenland ab. Weil nach dem Mauerbau die Arbeitskräfte aus Ostdeutschland ausblieben, folgte am 30. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Später kamen Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien hinzu. Sie alle kurbelten das deutsche Wirtschaftswunder mit an. Auf Basis des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens bewarben sich zwischen 1961 und 1973 mehr als zweieinhalb Millionen Menschen aus der Türkei um eine Arbeit in Deutschland; jede und jeder Vierte wurde akzeptiert und machte sich vom Istanbuler Sirkeci-Bahnhof auf den Weg nach Deutschland. Zunächst galt das Rotationsprinzip mit einer Aufenthaltserlaubnis von bis zu zwei Jahren, ohne Familiennachzug. Das stellte sich für Wirtschaft und Arbeitgeber jedoch als ungünstig heraus und wurde 1964 außer Kraft gesetzt. Durch das Anwerbeabkommen wuchs die Zahl der ausländischen Beschäftigten in Deutschland von rund 280.000 im Jahr 1960 auf 2,6 Millionen in 1973. Die Zahl der Gastarbeiter:innen aus der Türkei stieg im selben Zeitraum auf etwa 850.000.
Im September 1964 wurde der millionste Gastarbeiter, der in Deutschland ankam, am Bahnhof Köln-Deutz von Dutzenden Journalisten empfangen und gefeiert. Der Portugiese Armando Rodrigues de Sá war nach Berechnungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Gastarbeiter Nummer 1.000.000. Er bekam einen Strauß Nelken, eine Ehrenurkunde sowie ein Moped als Belohnung. Heute steht der Zweisitzer im Deutschen Museum in Bonn.
„Diese Gastarbeiterabkommen haben die Geschichte von Millionen Familien in Europa verändert; sie haben Geschichten und Geschichte geschrieben – Lebensgeschichte, Staatengeschichte. Sie haben die Geschichte und das Gesicht (und die Küche!) Deutschlands verändert, wohl auch die Geschichte und das Gesicht der Herkunftsländer. Deutschland ist, ob man das Wort nun mag oder nicht, multikulturell geworden, multireligiös – und multiverstört“, beschrieb Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ die neuere Geschichte Deutschlands sehr treffend.
Die Migrationspolitik in der Bundesrepublik hat seit der ersten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte 1955 verschiedene Phasen durchlaufen, in denen mal die Rückführung, dann die Regelung der Asylmigration oder Ansätze der Integrationsförderung im Mittelpunkt standen. Allmählich manifestierte sich damit der Wandel vom Aus- zum Einwanderungsland – wenngleich das bis in die jüngste Zeit von manchen politisch nicht anerkannt wurde und bis heute weiterhin nicht anerkannt wird.
Anfang der 70er-Jahre veränderte sich die wirtschaftspolitische Situation. Als Folge der globalen Ölkrise und der sich verschlechternden Wirtschaftslage verfügte die deutsche Regierung im Herbst 1973 einen Anwerbestopp. Viele der damaligen Gastarbeiter:innen verließen Deutschland nach und nach. Insbesondere Gastarbeiter:innen aus Italien, Spanien, Portugal und Griechenland zog es spätestens mit dem Beitritt ihrer Länder in die Europäische Union zurück in die Heimat. Aber ein Großteil der türkischen Gastarbeiter:innen blieb. 1973 standen diese vor einer Schicksalsfrage: Deutschland für immer zu verlassen oder zu bleiben und ihre Familien nachzuholen. Wenige Wochen vor dem Inkrafttreten des Anwerbestopps kamen so Tausende junge Ehefrauen mit ihren kleinen Kindern aus der Türkei in der Bundesrepublik an. So auch Yeter Mutlu, meine Mutter, mit meinem kleinen Bruder Yüksel und meiner Schwester Kezban und mir, an einem kalten Novembermorgen im trüben Berlin. Meine Mutter ist eine Kämpferin, ihr verdanke ich alles. An jenem Tag im November hätte sie vermutlich auch nie gedacht, dass aus ihrem fünfjährigen Jungen aus dem kleinen Dorf Akdağ-Kelkit eines Tages ein Bundestagsabgeordneter werden würde.
Die meisten Gastarbeiter:innen aus der Türkei blieben, weil die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in ihrer alten Heimat mehr als ungünstig waren. Mit dem Militärputsch 1980 in der Türkei kamen politische Gründe hinzu: Er führte dazu, dass in den 80er-Jahren viele Menschen aus der Türkei als Asylbewerber Zuflucht in Deutschland suchten. Deutschland sollte für viele von ihnen zur neuen Heimat werden, obwohl das erst in den späten 90er-Jahren allmählich in das Bewusstsein der ehemaligen Gastarbeiter:innen eindrang. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft und die Politik brauchten viel länger, um die Realität der Einwanderungsgesellschaft zu begreifen und zu akzeptieren.
Die Entscheidung zu bleiben war für viele Gastarbeiter:innen ein Jahrzehnte andauernder Prozess. Die Kinder der zweiten Generation waren „Kofferkinder“. Sie saßen sinnbildlich immer auf Koffern. Jedes Jahr sagten unsere Eltern: „Nächstes Jahr gehen wir für immer zurück in die Heimat.“ Aber dieses nächste Jahr kam nie. Auch das schwarz-gelbe „Rückkehrförderungsgesetz“ von 1983 und die damit verbundene Rückkehrprämie, eine Kernforderung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, führten nicht dazu, dass türkische Gastarbeiter:innen in Massen zurückkehrten.
Fernsehaufnahmen und Interviews aus den späten 60er- und 70er-Jahren zeigen, dass sich die anfängliche Euphorie und Begeisterung für die Gastarbeiter:innen aus Südeuropa und der Türkei schon damals recht schnell abkühlten und in Ablehnung umschlugen. Ressentiments und Ausgrenzung, die in Teilen auch in Rassismus mündeten, waren an der Tagesordnung. Ebenso kamen die Gastarbeiter:innen schnell zu unrühmlichen Titeln, wie „Itaker“, „Polacken“ oder „Kanaken“. Feridun Zaimoglu, auch ein „Gastarbeiterkind“, sollte später mit seinem Erstlingswerk „Kanak Sprak“ zu Ruhm kommen und zu einem preisgekrönten Schriftsteller werden.
Schon damals hetzte die „Bild“-Zeitung und schrieb im August 1973 als Reaktion auf den Streik in den Kölner Ford-Werken: „Gastarbeiter, dieses Wort kommt von Gast. Ein Gast, der sich nicht so beträgt, gehört vor die Tür gesetzt!“ Dieser Streik – auch bekannt als der „Türken-Streik“ – war der erste seiner Art. Zum ersten Mal organisierten sich die türkischen Gastarbeiter und kämpften um ihre Rechte als Arbeitnehmer. Die Situation der Gastarbeiter:innen und die Zustände an deren Arbeitsplätzen waren häufig miserabel.
Mit seinem dokumentarischen Meisterwerk „Ganz unten“ beschrieb Günter Wallraff das Leben und Leiden der türkischen Gastarbeiter in den 80er-Jahren sehr eindrücklich. Für die Recherchen für sein Buch schlüpfte der Journalist und Schriftsteller in die Rolle eines „Türken“ und erlebte als Ali Levent Sinirlioğlu die Niederungen des deutschen Arbeitsmarktes und den unzumutbaren Umgang mit den Gastarbeitern am eigenen Leib. „Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer Demokratie“, so beschrieb Günter Wallraff seine Erlebnisse in einem späteren Interview.
Das Buch war wochenlang auf den Bestsellerlisten der Republik und wurde zu einem der erfolgreichsten Sachbücher der Nachkriegszeit. An den dramatischen und unmenschlichen Zuständen vieler hat sich jahrelang dennoch wenig verändert.
Ein anderes Buch – besser gesagt: Pamphlet – mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“ sollte Jahre später zeigen, dass Politik und Gesellschaft hierzulande weiterhin ausgesprochen anfällig sind für Populismus und Xenophobie. Die Ablehnung der Vielfalt in weiten Teilen der Gesellschaft, in einem Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung inzwischen einen Migrationshintergrund hat, ist ein großes Problem unserer Gesellschaft. Die anhaltenden Sympathien der deutschen Konservativen für die kruden, absurden und im Kern islamophoben Thesen von Thilo Sarrazin – die wissenschaftlich mehrfach widerlegt wurden – zeigen, dass wir als Gesellschaft noch sehr viel lernen müssen. Als sich Bundespräsident Christian Wulff 2010 bei seiner Antrittsrede mit dem Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ zur Multireligiosität bekannte, war die Empörung gewaltig. Dabei erkennt die überwältigende Mehrheit der bei uns lebenden Muslime die Verfassung der Bundesrepublik an und ist in der Gesellschaft angekommen. Sie leben ganz und gar unprätentiös ihre angestammte Religion, wie es Protestanten, Katholiken und Anhänger anderer Religionen auch tun.
Und wieder sollte ein Novembertag das deutsch-türkische Binnenverhältnis maßgeblich prägen: der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Mit dem Mauerfall veränderten sich die politische und wirtschaftliche Lage für alle. Anstelle eines wirtschaftlichen Aufschwungs stiegen in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 die Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit im Land. So lag beispielsweise die Arbeitslosigkeit unter Berliner Türk:innen in den Wendejahren bei nahezu 50 Prozent. In der türkischen Bevölkerung machte sich immer mehr Unmut breit. „Duvar Türklerin başına yıkıldı“ war ein weitverbreiteter Ausspruch in der türkischen Community und heißt übersetzt: „Die Mauer ist auf die Köpfe der Türken gefallen.“
Zugleich stieg in der Wendezeit die Zahl der Asylbewerber:innen stark an. Es kam zu einer Welle rechtsextremer Gewalttaten und Angriffe auf „Ausländer“ und „Asylanten“, begleitet von hetzerischen Kampagnen populistischer Politiker und der Boulevardmedien. Infolge der rechtsextremen Unruhen und der Anschläge beugten sich Vertreter von Union, SPD und FDP dem Druck der Straße und verständigten sich im Dezember 1992 auf eine Neuregelung des Asylrechts. Das Ziel des Asylkompromisses: Verfahrensbeschleunigung und Verhinderung von „Asylmissbrauch“. Nur drei Tage nach der Grundgesetzänderung, am 29. Mai 1993, starben fünf Familienmitglieder türkischer Herkunft bei einem rechtsextremen Brandanschlag in Solingen.
Die Geschichte der Einwanderung von Menschen aus der Türkei in die Bundesrepublik ist sehr vielfältig und geprägt von vielen Höhen und Tiefen. Die Brandanschläge von Mölln und Solingen oder die kaltblütigen Morde des NSU-Terrors sind unvergessen und haben sich tief in das kollektive Gedächtnis vieler Menschen aus der Türkei – für die Deutschland längst zur Heimat geworden ist – eingeprägt. Das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und Polizei ist seither erschüttert. Trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern und trotz des NSU-Prozesses in München hält dieses Misstrauen an.
Rechtsextreme Polizeichatgruppen, rechte Netzwerke innerhalb der Bundeswehr, Droh-E-Mails von Polizeidienststellen in Hessen, der Anschlag in Hanau, bei dem elf Menschen von einem Rechtsextremen kaltblütig ermordet wurden, der antisemitische Anschlag auf eine Synagoge in Halle, bei dem nur durch einen glücklichen Umstand die betenden Menschen in der Synagoge überlebt haben, aber zwei Menschen auf der Straße getötet wurden, und zahlreiche Anschläge auf Moscheen haben dieses Misstrauen verstärkt.
Erst seit jüngster Zeit sind Einwanderung und Migration der ehemaligen Gastarbeiter:innen auch Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung, um weitverbreitete Vorurteile zu widerlegen. Angeblich überfordere uns das Nebeneinander von Menschen verschiedener Herkunft. Die sprachliche, wirtschaftliche, soziale und politische Integration der Migrant:innen sei im Großen und Ganzen gescheitert. Demokratie, die Gleichberechtigung der Frau, „deutsche Leitkultur“ und abendländische Werte seien diesen Leuten – egal, ob Geflüchtete, Einwander:innen oder „Neudeutsche“ – nicht beizubringen. Dabei ist es dieses populistische Herbeireden des Untergangs des Abendlandes von Menschen, die mit komischen Kürzeln, wie zum Beispiel Pegida, durch die Städte ziehen oder sich als „Alternative“ (wofür auch immer!) gerieren, das eigentliche Problem in unserem Land.
Integration ist ein wechselseitiger Prozess und keine Einbahnstraße. Eine Gesellschaft der Vielfalt ist eben kein Straßenfest, und jeder weiß, dass Einwanderungsländer selten frei von Streitigkeiten sind. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani erklärt diesen Effekt in seinem Buch „Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“. Mehr Menschen können mitbestimmen, ihre Interessen auf Augenhöhe wahrnehmen und für sich selbst einstehen. Das erst schafft Vielfalt. Niemand bestreitet auch, dass es noch sehr viel zu tun gibt.
Stellt man jedoch in Rechnung, dass unser Land und seine Politiker:innen die über 60-jährige, faktische Einwanderung erst seit kurzer Zeit nicht mehr leugnen, sieht die gegenwärtige Bilanz so schlecht nicht aus. Bilanz ist dabei buchstäblich zu verstehen: Deutschland wäre im wörtlichen Sinne arm dran ohne die Wirtschaftsleistung all der ehemaligen Gastarbeiter:innen und heutigen Immigrant:innen sowie ihrer Kinder und Enkelkinder. Erst als „Gastarbeiter“ in der Industrie und später als Gewerbetreibende und Unternehmer:innen in allen möglichen Branchen trugen sie und tragen sie weiterhin zum deutschen Wohlstand bei. Die wenigsten wissen zum Beispiel, dass in unserem Land etwa 103.000 Unternehmen von Menschen aus der Türkei gegründet worden sind und diese circa 800.000 Jobs geschaffen haben – so auch zum Beispiel das Unternehmen BioNTech, gegründet von Özlem Türeci und Uğur Şahin, die mit dem unter ihrer Anleitung entwickelten Impfstoff unserer Welt Hoffnung gaben. Der Beitrag zum deutschen Bruttoinlandsprodukt all der Menschen, die aus der Türkei immigriert sind, hat längst die 100-Milliarden-Euro-Grenze überschritten.
Immigration bedeutet ebenso vielfältige kulturelle Impulse. Das sind so simple Dinge wie Sprache, Folklore, musikalische Einflüsse und fremdländische Küchen. Wie arm wäre Deutschland, kulinarisch gesehen, ohne Döner, Cevapcici, Pasta oder Paella. Döner Kebap ist zwischenzeitlich ein deutsches Exportgut geworden und genießt weltweiten Ruhm als eine leckere deutsche Speise. Egal, ob bei Kotti Berliner Döner Kebab in Brooklyn, New York, oder bei Saray Kebab in Tokio, überall auf der Welt findet man diese kulinarische Köstlichkeit, die einer Legende nach in den frühen 70er-Jahren in Berlin-Kreuzberg erfunden wurde.
Heute, 60 Jahre nach dem Abkommen, existieren über 100 Städtepartnerschaften auf kommunaler Ebene, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen den beiden Ländern zu verstärken. Deutschland und die Türkei sind die wichtigsten Handelspartner innerhalb der EU. Das bilaterale Handelsvolumen betrug zuletzt 35 Milliarden Euro. Deutschland ist auch der größte ausländische Investor in der Türkei. Die Zahl deutscher Unternehmen beziehungsweise von Unternehmen mit deutscher Beteiligung in der Türkei beträgt aktuell etwa 7.200. Inzwischen kommen auch immer mehr türkische Investoren und Start-ups nach Deutschland. 2014 gründete die bekannte Istanbuler Bahçeşehir-Universität im Rahmen des Deutsch-Türkischen Wissenschaftsjahres die Berlin International University of Applied Sciences und treibt mit der Deutsch-Türkischen Universität Istanbul den Wissenstransfer zwischen den beiden Ländern voran. Heute leben etwa drei Millionen Menschen in Deutschland, die ursprünglich aus der Türkei stammen. Nahezu die Hälfte von ihnen besitzt schon die deutsche Staatsangehörigkeit. Über 915.000 von ihnen leben in den eigenen vier Wänden und sind stolze Eigenheimbesitzer in Deutschland. Beachtlich ist auch, dass jedes Jahr etwa fünf Millionen deutsche Touristen die Türkei besuchen.
Viele ehemalige Gastarbeiterkinder und deren Kinder haben unser Land nachhaltig und positiv geprägt. Sie sind heute in allen Bereichen der Gesellschaft erfolgreich präsent. Sie übernehmen Verantwortung und tragen zu einem friedlichen Miteinander in unserer Gesellschaft bei, allen Unkenrufen zum Trotz! Heute reden wir inzwischen von der vierten Generation. Wir können mit Stolz von millionenfacher gelungener Integration reden, wie dieses Buch exemplarisch zeigt. Egal, ob in der Wirtschaft oder auf dem Arbeitsmarkt, im Sport, in der Kunst und Kulturwelt, in der Forschung und Wissenschaft oder in Politik, Medien und Gesellschaft, überall findet man die neuen Deutschen und ihre großartigen Erfolge. Sie heißen Fatih, Emre, Sibel, Ozan, Ceren, Aylin …
Die Geschichte der ersten Gastarbeitergeneration ist die von Kämpfer:innen und Held:innen. Das 60. Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens ist ein guter und geeigneter Anlass, die Geschichten ihrer Nachkommen, der neuen Deutschen, (wieder) zu erzählen. Es sind herzzerreißende Geschichten von Ablehnung und Ausgrenzung, von Misserfolgen und Enttäuschungen, aber auch von Mut und Zuversicht, von Kampfeswillen und großartigen Erfolgen. Diese vielfältigen Biografien zeigen, wie reich und vielfältig unser Land dank des Abkommens vom 30. Oktober 1961 geworden ist. Denn allen Widersprüchen und Unkenrufen zum Trotz repräsentieren die Nachkommen der früheren Gastarbeiter:innen eine neue Generation von Deutschen. Eine Generation mit hybriden Identitäten, die sich nicht auf eine Herkunft reduzieren lassen, Diversität leben und unser Land mit ihrer Vielfalt bereichern.
Ich liebe dieses Land, weil es kulturell so reich und vielfältig ist. Das ist auch meine Antwort an all jene, die in ihrem völkisch-nationalen Wahn unser Land nur schlechtreden und uns nur als „Passdeutsche“ sehen. Diese sollen wissen: Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.